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Die Tod einer jungen Frau nach einer brutalen Vergewaltigung hat Indien geschockt.

© afp

Update

Die Wut des jungen Indien: Bruder von vergewaltigter Inderin fordert Todesstrafe für Täter

Ihr Leid hat Indien erschüttert. Nun erlag eine junge Frau, die von mehreren Männern vergewaltigt wurde, ihren schweren Verletzungen. Nicht nur die Familie des Opfers ist schockiert und voller Wut auf die Täter. Ein Bericht aus einem traumatisierten Land.

Der Bruder der vergewaltigten Inderin, deren Tod am Wochenende das Land erschütterte, hat die Todesstrafe für die Täter gefordert. „Der Kampf hat gerade erst begonnen. Wir wollen alle Angeklagten hängen sehen, und wir werden dafür kämpfen bis zum Ende“, sagte ihr Bruder der Zeitung „Indian Express“ vom Montag.

Der Vater der jungen Frau sagte dem Blatt, seine Ehefrau habe seit zwei Wochen kaum etwas gegessen. „Sie war erschöpft“, sagte der Vater. „Ich glaube, sie war nicht bereit, dem Schock über den Tod unserer Tochter ins Auge zu blicken, auch wenn die Ärzte uns immer sagten, es sei ernst. Sie weinte den ganzen Samstag, doch es wurde schlimmer auf dem Flug zurück“, sagte der Vater, der wie die ganze Familie in der Öffentlichkeit nicht mit Namen genannt wurde.

Bis heute kennt niemand den wahren Namen der 23-jährigen Studentin. Doch ihr unfassbares Leid hat Indien so erschüttert, dass über Tage Zehntausende Menschen auf die Straße gingen. Nun hat die 23-jährige Medizinstudentin, die von sechs Männern vergewaltigt und gefoltert wurde, den Kampf um ihr Leben verloren. 13 Tage nach der Horrortat versagten am frühen Samstagmorgen ihre Organe. Am Sonntag wurde ihr Leichnam in Delhi eingeäschert. Ihren Peinigern droht nun die Todesstrafe.

Und Indien stand unter Schock.  “Ein Land trauert”, titelte The Hindu. Mit Schweigemärschen, Kerzenlichtern, mit Gebeten und Gesängen erwiesen Tausende “Damini”, wie die Demonstranten sie nach dem Vorbild einer Filmheldin, die für ein Vergewaltigungsopfer kämpft, getauft hatten, die letzte Ehre. Viele kämpften mit den Tränen. Die Hindustan Times widmete ihre ganze erste Seite in eine Traueranzeige um. “Sie entzündete eine Flamme.”

Sonia Gandhi, Chefin der regierenden Kongresspartei, und Premierminister Manmohan Singh nahmen den Leichnam der Toten am Flughafen in Empfang. Zuvor hatte sich Gandhi im Fernsehen ans Volk gewandt. ”Ihr Kampf wird nicht umsonst gewesen sein”, versicherte sie und sagte einen besseren Schutz für Frauen zu:  “Eure Stimmen sind gehört worden.”

Auch Bollywood zeigte sich geschockt. “Weine, Indien. Deine Hände sind getränkt mit dem Blut Deiner eigenen Töchter”, schrieb der Regisseur Mahesh Bhatt. Stellvertretend für viele sprach Superstar Shah Rukh Khan vom Gefühl der Scham. “Vergewaltigung verkörpert Sexualität, wie unsere Kultur und Gesellschaft sie definiert. Ich schäme mich, Teil dieser Gesellschaft und Kultur zu sein.”

Zwar dünnten die Proteste in Delhi deutlich aus, doch die Wut und der Ärger schwelen weiter. Das Schicksal der jungen Frau wurde nicht nur zum Symbol für die verbreitete Gewalt gegen Frauen und ihr alltägliches Leid. “Damini” ist auch zum Symbol für den Kampf gegen ein verrottetes System geworden, das die Mächtigen schützt und die Schwachen schutzlos lässt.

Die Ereignisse hätten die “Fäulnis im Herzen von Indiens politischem System” offengelegt, schreibt der Kolumnist Meghnad Desai. Und die Zeitung Mail Today kommentiert: “Die Jugend dieses Landes ist wütend. Ob Korruption, Recht und Ordnung oder Staatsleistungen - die Jungen fühlen sich hoffnungslos von ihren gewählten Repräsentanten verraten.”

Aus Angst vor neuen Unruhen und Massenprotesten verschanzte sich die Politik hinter Barrikaden. Das Regierungsviertel in Delhi glich am Wochenende einer Festung und war weiträumig abgesperrt. Zehn Metrostationen wurden geschlossen.

“Es scheint, dass sie Angst vor ihrem eigenen Volk haben”, meinte die 19-jährige Demonstrantin Neha, die sich mit einem Tuch vermummt hat, um nicht erkannt zu werden. “Meine Eltern haben mir verboten, zu protestieren. Aber ich bin trotzdem gekommen. Wir dürfen nicht länger schweigen.” Auch der Student Amit sagt. “Wir werden nicht ruhen, bis sich dieses Land ändert – zum Besseren.”

Die Bestialität der Tat hat die Menschen traumatisiert.

Die Bestialität der Tat hat die Menschen traumatisiert. Dabei trifft der Begriff Vergewaltigung nicht das Ausmaß der Gewalt, die von unbändigem Hass auf Frauen spricht. Die 23-jährige war am 16. Dezember in einem fahrenden Bus vor den Augen ihres Freundes von sechs Männern vergewaltigt und dann mit Eisenstangen gefoltert worden, bis ihr Darm und ihr Unterleib zerfetzt waren.

Danach wurden beide wie Müll auf die Straße geworfen. Der Freund kam mit leichteren Verletzungen davon, doch das Mädchen trug so schlimme Wunden davon, dass selbst die Ärzte fassungslos waren. “Ich habe noch nie so schlimme Verletzungen gesehen. Ich konnte nicht mal ihren Magen finden”, sagte der Notarzt. Die 23-jährige musste drei Mal im Unterleib notoperiert werden, dabei entfernten die Ärzte den gesamten Darm.

Doch auch das konnte nicht verhindern, dass sich eine Infektion ausbreitete. Am Mittwoch erlitt sie laut Medien zwei Herzattacken, bei denen es zu schweren Gehirnschäden kam. Trotzdem wurde das sterbende Mädchen noch in eine Klinik nach Singapur geflogen. Um einen letzten Versuch zu unternehmen, sie zu retten, sagt die Regierung. Um die Proteste abzumildern, wenn sie stirbt, sagen Kritiker.

Die Tat hatte in Indien eine bisher beispiellose Protestwelle ausgelöst. Über Tage hatten Zehntausende im ganzen Land gegen die wachsende Gewalt gegen Frauen demonstriert. Das Ausmaß der Proteste hatte Politik und Polizei kalt erwischt. Sie hatten den Unmut offenbar völlig unterschätzt. Die Regierung wirkte hilflos, über Tage schwieg sie. 

Die Polizei setzte Knüppel, Tränengas und Wasserwerfer ein. Plump versuchten einige Politiker, die Demonstranten als Volksfeinde anzuschwärzen und verglichen sie mit Maoisten. Der Politiker Abhijit Mukherjee, Sohn von Indiens Präsidenten, betitelte die Demonstrantinnen gar als “ angeknackste, aufgetakelte Frauen”. Erst nach einem Empörungssturm in den Medien entschuldigte er sich.

Dabei sind es Indiens Hoffnungsträger, die hier demonstrieren. Es ist Indiens künftige Mittelschicht. An der Spitze der Proteste stehen junge Studentinnen und Studenten, die ein neues Indien einfordern: Einen Staat, der für seine Bürger da ist und die Schwachen schützt. Eine Regierung, die ihrem Volk dient.

Der Kolumnist Desai vergleicht die Proteste mit den Studentenbewegungen der 60er Jahre im Westen, als die junge Generation für eine neue Gesellschaft und eine neue Politik auf die Straße zog. Dabei kollidieren die jungen Inder mit dem konservativen, alten Indien, das in Teilen nicht weniger mittelalterlich denkt als Afghanistan oder Pakistan – und seine Frauen ähnlich schlecht behandelt.

Doch die Jungen stehen nicht allein dabei. Auch ältere Frauen und Männer reihten sich ein. Wie die 54-jährige Professorin Anita Shai, die jeden Tag mit ihrem Rollstuhl zu den Protesten kam. Zeitungen berichten, dass selbst einige jüngere Polizisten gesagt haben: “Diese Leute sind unsere einzige Hoffnung.”

Tatsächlich richten sich die Proteste auch gegen das Versagen des Staates, das Versagen der Polizei und das Versagen der Justiz, die die Schwachen im Stich lassen und verraten. Gewalt gegen Frauen ist in Indien derart allgegenwärtig, dass die Autorin Arundhati Roy von einer “Kultur der Vergewaltigung” spricht. So kommen die allermeisten Vergewaltiger völlig ungeschoren davon.

Die Regierung hat zwar nun schnelle Prozesse versprochen, um die sechs Peiniger der 23-jährigen zu verurteilten. Doch das ändert wenig an den strukturellen und gesellschaftlichen Missständen. Zumal die subtile Gewalt schon viel früher beginnt.

Viele Frauen trauen sich nachts nicht mehr vor die Tür

Selbst am hellichten Tage werden Frauen auf offener Straße, in Bussen und Bahnen begrabscht. Viele tragen daher eine Stecknadel bei sich, um sich gegen Grabscher wehren zu können. Auch Eve-Teasing, also “Eva ärgern”, wie unflätiges Anpöbeln verharmlosend genannt wird, ist alltäglich.

Die Stadt gehört den Männern. “Willst Du ficken”, müssen sich Frauen anhören, nur weil sie es wagen, auf der Straße zu gehen. Natürlich passiert meistens nicht. Doch die unterschwellige Angst ist für viele Frauen ein ständiger Begleiter - vor allem für ärmere Frauen, die sich kein Taxi, geschweige denn ein Auto leisten können. Viele Eltern verbieten selbst ihren erwachsenen Töchtern, abends ins Kino, ins Restaurant oder selbst um die Ecke zu Freunden gehen, weil sie sich um die Sicherheit sorgen.

Alle 20 Minuten wird in Indien eine Frau oder ein Kind vergewaltigt. Und das sind nur die gemeldeten Zahlen. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein, weil vergewaltigte Frauen geächtet werden. Selbst wenn sich die Opfer zur Polizei wagen, droht ihnen oft ein neuer Alptraum. “Die Polizei nimmt Vergewaltigungen so ernst wie Autofahrer in Indien einen Zebrastreifen”, schreibt der Kolumnist Indrajit Hazra - und das heißt: gar nicht. 

Anzeigen würden routinemäßig entmutigt, Beweise zerstört und die Opfer schikaniert – “wenn sie nicht gleich weggejagt werden”, so Hazra weiter. Exemplarisch ist die Geschichte eines 17jährigen Mädchen aus Patiala, das nach einer Gruppenvergewaltigung nun Selbstmord beging. Täter und Polizei hatten das Mädchen bedroht, um eine Anzeige zu verhindern. Und selbst die Fälle, die es vor Gericht schaffen, ziehen sich über Jahre hin, bis die Opfer aufgeben. So sollen 100 000 Vergewaltigungsfälle vor den Gerichten anhängig sein. Und drei von vier Tätern werden freigesprochen.

Doch damit will sich die neue Mittelschicht nicht länger abfinden. Die jungen Frauen, die arbeiten gehen oder studieren, wollen nicht länger in Angst leben, wollen ihre Körper nicht länger verhüllen müssen und wollen neue Freiheiten genießen. “Das ist unsere Stadt. Das ist unser Land”, schreien sie auf Plakaten heraus. “Niemand hat das Recht, meinen Körper zu berühren.”

Die Proteste dürften wohl bald wieder abebben. Doch die Politik täte gut daran, den wachsenden Ärger der Jugend ernst zu nehmen, meint die Zeitung Mail today. Ansonsten werde der Unmut weiter wachsen. Tatsächlich hatten die jüngst Straßendemonstrationen eine neue Qualität. 

In der Vergangenheit kannte Indien vor allem Demonstrationen, die von Parteien oder anderen Interessengruppen dirigiert und organisiert wurden. Erst in den letzten Jahren erlebt das Land mehr und mehr Bürgerproteste, die aus dem Volk entstehen.

Sie begannen Mitte des vorigen Jahrzehnts, als die Mittelschicht die Gerichte zwang, einen Politikersohn zu verurteilen, der vor hundert Augenzeugen eine Kellnerin erschossen hatte, aber trotzdem zunächst freigesprochen wurde. Und letztes Jahr demonstrierten Zehntausende gegen die grassierende Korruption.

Die Proteste erreichten nun einen neuen Höhepunkt im Aufschrei der Jugend, die erstmals direkt an die Türen des Präsidentenpalastes anklopfte.

Der Soziologieprofessor Dipankar Gupta meint bereits: “Der Staat sitzt auf einem Pulverfass und seine Bürger sind bereit, das Feuer anzuzünden.”  Das mag maßlos übertrieben sein. Denn bis die unzufriedene Jugend die kritische Masse erreicht, werden wohl noch Jahre oder Jahrzehnte vergehen. Doch es könnte der Vorbote von weiteren Protesten sein.

Und bisher fehlt der Politik eine Antwort, wie sie mit dieser Jugend, mit dieser neuen, selbstbewussten Mittelschicht umgeht. So reagierte die Politik mit alten Reflexen, in dem sie versuchte, die Proteste schnell zu ersticken. Frustriert fasst der politische Analyst Brahma Chellaney die Lage Indiens zur Jahreswende zusammen: “Regierung: gefühllos; Oppositionspartei BJP: gehirntot; Polizei: eine öffentliche Gefahr; Bürger: zynisch; Zukunft: unsicher.” (mit AFP)

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