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Gegen die Kultur der Vergewaltigung. Protestierende in Neu-Delhi. Foto: AFP

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Panorama: Die Wut des jungen Indien

Die Vergewaltigung einer Studentin hat das Land traumatisiert – es ist die moderne Mittelschicht, die auf die Straße geht.

Bis heute kennt niemand ihren wahren Namen. Doch ihr unfassbares Leid hat Indien tief erschüttert. „Ein Land trauert“, titelte „The Hindu“. Am Sonntag wurde ihr Leichnam in Neu-Delhi eingeäschert. Mit Schweigemärschen, Kerzenlichtern, mit Gebeten und Gesängen erwiesen Tausende „Damini“, wie die Demonstranten sie nach dem Vorbild einer Filmheldin, die für ein Vergewaltigungsopfer kämpft, getauft hatten, die letzte Ehre. Viele kämpften mit den Tränen. Die „Hindustan Times“ widmete ihre ganze erste Seite in eine Traueranzeige um. „Sie entzündete eine Flamme.“

Sonia Gandhi, Chefin der regierenden Kongresspartei, und Premierminister Manmohan Singh hatten den Leichnam der Toten am Flughafen in Empfang genommen. Zuvor hatte sich Gandhi im Fernsehen ans Volk gewandt. „Ihr Kampf wird nicht umsonst gewesen sein“, versicherte sie und sagte einen besseren Schutz für Frauen zu: „Eure Stimmen sind gehört worden.“

Bollywood zeigte sich schockiert. „Weine, Indien. Deine Hände sind getränkt mit dem Blut Deiner eigenen Töchter“, schrieb der Regisseur Mahesh Bhatt. Stellvertretend für viele sprach Superstar Shah Rukh Khan vom Gefühl der Scham. „Vergewaltigung verkörpert Sexualität, wie unsere Kultur und Gesellschaft sie definiert. Ich schäme mich, Teil dieser Gesellschaft und Kultur zu sein.“

Auch wenn die Proteste in den nächsten Tagen kleiner werden sollten, die Wut und der Ärger schwelen weiter. Das Schicksal der jungen Frau wurde nicht nur zum Symbol für die überall in Indien verbreitete Gewalt gegen Frauen und ihr alltägliches Leid. „Damini“ ist auch zum Symbol für den Kampf gegen ein verrottetes System geworden, das die Mächtigen schützt und die Schwachen schutzlos lässt.

Die Ereignisse hätten die „Fäulnis im Herzen von Indiens politischem System“ offengelegt, schreibt der Kolumnist Meghnad Desai. Und die Zeitung „Mail Today“ kommentiert: „Die Jugend dieses Landes ist wütend. Ob Korruption, Recht und Ordnung oder Staatsleistungen – die Jungen fühlen sich hoffnungslos von ihren gewählten Repräsentanten verraten.“

Aus Angst vor neuen Unruhen und Massenprotesten verschanzte sich die Politik hinter Barrikaden. Das Regierungsviertel in Neu-Delhi glich am Wochenende einer Festung und war weiträumig abgesperrt. Zehn Metrostationen wurden geschlossen.

„Es scheint, dass sie Angst vor ihrem eigenen Volk haben“, sagte die 19-jährige Demonstrantin Neha, die sich mit einem Tuch vermummt hat, um nicht erkannt zu werden. „Meine Eltern haben mir verboten zu protestieren. Aber ich bin trotzdem gekommen. Wir dürfen nicht länger schweigen.“ Auch der Student Amit sagt. „Wir werden nicht ruhen, bis sich dieses Land ändert – zum Besseren.“

Die Bestialität der Tat hat die Menschen traumatisiert. Dabei trifft der Begriff Vergewaltigung nicht das Ausmaß der Gewalt, die von einem unbändigem Hass der Täter auf Frauen spricht. Die 23-Jährige war am 16. Dezember in einem fahrenden Bus vor den Augen ihres Freundes von sechs Männern vergewaltigt und dann mit Eisenstangen misshandelt worden. Der Freund kam mit leichteren Verletzungen davon, die Frau trug so schlimme Wunden davon, dass selbst die Ärzte fassungslos waren. „Ich habe noch nie so schlimme Verletzungen gesehen”, sagte der Notarzt. Das sterbende Mädchen wurde noch in eine Klinik nach Singapur geflogen. Um einen letzten Versuch zu unternehmen, sie zu retten, sagt die Regierung. Um die Proteste abzumildern, wenn sie stirbt, sagen Kritiker.

Die Tat hatte in Indien eine bisher beispiellose Protestwelle ausgelöst. Das Ausmaß der Proteste hatte Politik und Polizei kalt erwischt. Sie hatten den Unmut offenbar völlig unterschätzt. Die Regierung wirkte hilflos, über Tage schwieg sie.

Die Polizei setzte Knüppel, Tränengas und Wasserwerfer ein. Plump versuchten einige Politiker, die Demonstranten als Volksfeinde anzuschwärzen und verglichen sie mit Maoisten. Der Politiker Abhijit Mukherjee, Sohn des Präsidenten Indiens, betitelte die Demonstrantinnen gar als „angeknackste, aufgetakelte Frauen“. Erst nach einem Empörungssturm in den Medien entschuldigte er sich.

Dabei sind es Indiens Hoffnungsträger, die hier demonstrieren. Es ist Indiens künftige Mittelschicht. An der Spitze der Proteste stehen junge Studentinnen und Studenten, die ein neues Indien einfordern: Einen Staat, der für seine Bürger da ist und die Schwachen schützt. Eine Regierung, die ihrem Volk dient.

Der Kolumnist Desai vergleicht die Proteste mit den Studentenbewegungen der 60er Jahre im Westen, als die junge Generation für eine neue Gesellschaft und eine neue Politik auf die Straße zog. Dabei kollidieren die jungen Inder mit dem konservativen, alten Indien, das in Teilen nicht weniger mittelalterlich denkt als Afghanistan oder Pakistan.

Doch die Jungen stehen nicht allein dabei. Auch ältere Frauen und Männer reihten sich ein. Wie die 54-jährige Professorin Anita Shai, die jeden Tag mit ihrem Rollstuhl zu den Protesten kam. Zeitungen berichten, dass selbst einige jüngere Polizisten gesagt haben: „Diese Leute sind unsere einzige Hoffnung.“

Tatsächlich richten sich die Proteste auch gegen das Versagen des Staates, das Versagen der Polizei und das Versagen der Justiz. Gewalt gegen Frauen ist in Indien derart allgegenwärtig, dass die Autorin Arundhati Roy von einer „Kultur der Vergewaltigung“ spricht. So kommen die meisten Vergewaltiger ungeschoren davon. Die Regierung hat zwar nun schnelle Prozesse versprochen, um die sechs Peiniger der 23-Jährigen zu verurteilen. Doch das ändert wenig an den strukturellen und gesellschaftlichen Missständen. Zumal die subtile Gewalt schon viel früher beginnt. Viele Frauen trauen sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr vor die Tür. Selbst am hellichten Tage werden Frauen auf offener Straße, in Bussen und Bahnen begrabscht. Viele tragen daher eine Stecknadel bei sich, um sich gegen Grabscher wehren zu können. Auch Eve-Teasing, also „Eva ärgern“, wie unflätiges Anpöbeln verharmlosend genannt wird, ist alltäglich.

Die Stadt gehört den Männern. „Willst du ficken“, müssen sich Frauen anhören, nur weil sie es wagen, auf der Straße zu gehen. Die unterschwellige Angst ist für viele Frauen ein ständiger Begleiter – vor allem für ärmere Frauen, die sich kein Taxi, geschweige denn ein Auto leisten können. Viele Eltern verbieten selbst ihren erwachsenen Töchtern, abends ins Kino, ins Restaurant oder selbst um die Ecke zu Freunden gehen, weil sie sich um die Sicherheit sorgen.

Alle 20 Minuten wird eine Frau oder ein Kind vergewaltigt. Das sind die gemeldeten Zahlen. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein, weil vergewaltigte Frauen geächtet werden. Selbst wenn sich die Opfer zur Polizei wagen, droht ihnen ein Albtraum. „Die Polizei nimmt Vergewaltigungen so ernst wie Autofahrer einen Zebrastreifen“, schreibt der Kolumnist Indrajit Hazra. Damit will sich die neue Mittelschicht nicht länger abfinden. Die jungen Frauen, die arbeiten gehen oder studieren, wollen nicht länger in Angst leben, wollen ihre Körper nicht länger verhüllen müssen und wollen neue Freiheiten genießen. „Das ist unsere Stadt. Das ist unser Land“, schreien sie auf Plakaten heraus. „Niemand hat das Recht, meinen Körper zu berühren.“ Die Proteste erreichten nun einen neuen Höhepunkt im Aufschrei der Jugend, die erstmals direkt an die Türen des Präsidentenpalastes anklopfte. Der Soziologieprofessor Dipankar Gupta sagte: „Der Staat sitzt auf einem Pulverfass und seine Bürger sind bereit, das Feuer anzuzünden.“

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