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Dortmund: Eine Stadt will Meister sein

Der nächste Deutsche Fußballmeister könnte aus Dortmund kommen. Das klärt sich vielleicht schon heute. Er käme dann aus einer Stadt im Wandel, deren Wahrzeichen geflügelte Nashörner sind. Als sei, was sie vorhat, Spinnerei.

Direkt hinter den Spitzohren wachsen zwei Flügelchen aus dem massigen Körper. Die breite Schnauze keck nach vorn gestreckt, scheint das Nashorn Witterung aufzunehmen: Wind aus Nordwest? Ideale Startbedingungen für einen kleinen Höhenflug!

Überall in Dortmund, der östlichsten Ruhrpottstadt, stehen diese Skulpturen herum, insgesamt 130 Stück, ponygroß und bunt bemalt. Was vor neun Jahren als Logo des neu errichteten Konzerthauses erdacht wurde, hat sich zum Symbol der gesamten Stadt entwickelt: ein Hartplastik gewordener Traum von der Überwindung lähmender Schwerkraft.

1950 Euro kostet der Nashorn-Rohling, die professionelle und witterungsresistente Gestaltung gibt es ab 900 Euro, je nach Aufwand, wie der dafür zuständige Airbrushkünstler auf seiner Homepage wissen lässt. Das geflügelte Nashorn steht also weniger für „Traum allgemein“ als für „Traum konkret“, und das passt fast noch besser zu dieser klobigen Stadt, weil „Traum konkret“ sich hier gerade erfüllt.

Vielleicht schon an diesem Samstag entscheidet sich, dass die Spieler vom BVB Dortmund Deutscher Fußballmeister werden. Wenn erst Leverkusen sein Spiel verliert und danach Dortmund seins gewinnt, werden sie uneinholbar an der Tabellenspitze stehen und am Saisonende die Meisterschale überreicht bekommen, zum siebten Mal in der 102-jährigen Geschichte des Clubs. Trainer Jürgen Klopp und seine modernen Motivationsmethoden sind für die Liga und darüber hinaus zum Vorbild geworden. Er hat also einem Nashorn Flügel verliehen, und Deutschland schaut bewundernd nach Dortmund. Aber was sieht es da?

Ein Meer aus Grün. Jedenfalls, wenn es mit Jörg Stüdemann aus dessen Bürofenster über die ganze Stadt gucken kann. Stüdemanns Büro liegt am Südwall im siebten Stock eines dunkel gekleideten Hochhauses, das das Rathaus ist. Stüdemann, Jahrgang 1956, ist Stadtdirektor, was vornehmer klingt, als der Amtsinhaber wirkt. Der trägt zwar Anzug und Krawatte, strotzt aber so sehr von Zupacklust, Kraft und Elan, dass die Krawatte schon ganz zerfranst sein müsste. Zur Antwort auf die Frage, was ihn glücklich mache, gehört bei Stüdemann passenderweise auch dies: „Erreichte Ziele, für die man sich extrem anstrengen musste.“ Und Anstrengung ist derzeit nötig. Denn Dortmund kämpft sich raus aus einer Strukturkrise, wird dafür nicht weniger als eine andere Stadt.

Wenn Stüdemann über die Bürger, die Stadt und sich spricht, sagt er gerne „wir“. Da bezieht er auch den BVB mit ein, vom dem man lernen könne, dass Gemeinschaftserfahrungen für Zusammenhalt sorgen. Dabei ist Stüdemann gar kein echter Dortmunder, sondern Bochumer, und lange in Dresden ist er auch gewesen. Aber egal: Wir sind wir. Dieses Wir aus Stadt und Mensch muss sich nun gewaltig verändern. Und wie beim Fußballverein der Trainer setzt auch die Stadtverwaltung auf das Team. Vertrauenskultur, noch so ein Stüdemannwort. Dem Rathaus eine Seele zurückgeben, hat er mal gesagt. Dem nashornigen Dortmund seien bereits Flügel gewachsen. Findet jedenfalls Stüdemann, der ein musischer Mensch ist, Germanist und Kulturdezernent, denn die Kultur, die wächst im Pott.

Das „U“ zum Beispiel, sagt Jörg Stüdemann. Damit meint er nicht die örtliche Untergrundbahn, sondern das ehemalige Kellerhochhaus der Union-Brauerei. Statt ihre frisch abgefüllten Flaschen unterirdisch zu lagern, ließ sich das Unternehmen 1927 eine Industriekathedrale bauen, 56 Meter hoch, bekrönt von ihrem überdimensionalen Anfangsbuchstaben. Was waren das für goldene Zeiten, als Dortmund sicher auf drei Beinen stand: Kohle, Stahl und Bier. Seit 1293 hatte die ehemalige Hansestadt das Brauprivileg, noch vor vier Jahrzehnten kam jedes fünfte im Ausland getrunkene Bier aus Dortmund. Dann aber verschliefen die lokalen Brauereien die Marktentwicklung, wurden aufgekauft oder dicht gemacht, parallel zu den Zechen und Schwerindustriekomplexen. Seit 1987 fahren keine Bergleute mehr in die Schächte ein, 2001 dröhnte die letzte Schichtsirene beim Stahlkocher Hoesch.

Stüdemann kann sich noch gut daran erinnern, wie er als Student Ende der 70er Jahre einen Kommilitonen besuchte, der direkt gegenüber der Hochöfen wohnte: „Im Sommer saßen wir auf dem Balkon und schauten zu, wie beim Abstich die gigantischen Flammen in den Himmel schossen, während schwarze Rußpartikel sanft auf unsere Teller niedersegelten.“

Wo Hoesch mal war, geht Dortmund bald baden, da entsteht ein Naherholungsgebiet. Das ist einer der ungezählten Tausendfüßlerschritte, mit denen Deutschlands achtgrößte Stadt versucht, voranzukommen. Mittelstand und Einzelhandel, Versicherungswirtschaft, Freizeit und Zukunftstechnologien. Mühsam ist der Weg durch die Tiefebene des Strukturwandels.

Genau aus solchen Gründen ist Jörg Stüdemann stolz darauf, dass er der Landesregierung im fernen Düsseldorf vor drei Jahren Fördermittel für die Umwandlung des „U“ in ein Museum für zeitgenössische Kunst abringen konnte. Andernfalls hätte Dortmund allerdings auch kein nachhaltiges Investitionsprojekt vorzuweisen gehabt im Kulturhauptstadtjahr 2010, als das gesamte Ruhrgebiet den europäischen Ehrentitel tragen durfte. Da wurde Großes bewegt, so wie es Stüdemann gefällt, diesem breitschultrigen Mann mit seinen Pranken. In seiner Stadt muss er mit denen allerdings unablässig an kleinen Stellschräubchen drehen, um das Schlimmste zu verhindern.

Dortmund hat zwar als eine der wenigen Städte im Ruhrgebiet einen ausgeglichenen Haushalt, muss aber dennoch jährlich Kredite in Höhe von 1,2 Milliarden Euro aufnehmen, um liquide zu bleiben. Die Wirtschaftskrise hat hier voll durchgeschlagen, 2009 tat sich innerhalb weniger Monate ein Loch von 200 Millionen Euro im Haushalt auf. Also wird gespart, und was das im Alltag bedeutet, kann erleben, wer nachmittags in den Personaltrakt der Stadtbibliothek will. Nur wer sich per Handy bemerkbar machen kann, dem wird von seiner Verabredung persönlich die Tür geöffnet. Die Pförtnerloge ist nach 15 Uhr nicht mehr besetzt - um eine bescheiden besoldete Halbtagskraft zu sparen.

Andererseits explodieren die Kosten für Sozialleistungen, und bereits ein Drittel der Dortmunder Bevölkerung ist „von Armutsphänomenen betroffen“, wie es Stüdemann formuliert. Die Ansammlung von Imbissbuden, Spielhallen und Billigramsch-Klamottenläden an der Brückstraße, die als „Szeneviertel“ vermarktet wird, zeugt davon. „Vielleicht ist ,wunderschön’ nicht die treffendste Beschreibung, die Dortmund charakterisiert“, heißt es in der offiziellen Stadtmarketing-Broschüre, und vielleicht soll das witzig sein, aber denjenigen, die per Zug nach Dortmund reisen, vergeht das Lachen recht prompt nach dem Aussteigen.

Pinkelgelbes Neonlicht, gekachelte Wände, penetranter Pommesgestank. Jenseits einer dröhnenden Schnellstraße, die ausgerechnet „Königswall“ heißt, recken sich Bausünden der 60er und 70er Jahre in den Himmel, die Dortmunder Innenstadt wurde im Zweiten Weltkrieg zu 98 Prozent zerstört. Doch was danach zwischen den übrig gebliebenen historischen Häusern gebaut wurde, sieht aus, als hätten sich die schlechtesten Architekten der Republik zusammengetan, um den Prototyp der gesichtslosen modernen Großstadt zu schaffen.

„Last Chance“ prangt über dem Eingang eines besonders hässlichen Büroriegels. Die Tür ist verschlossen, ein verblasster Zettel erklärt, dass der Plattenladen, den es hier mal gab, „aufgrund stark sinkender Umsätze“ dicht gemacht habe. Im Jahr 2008. Eng und bodenvollversiegelt zieht sich die Fußgängerzone des Westenhellweg an den üblichen Filialisten vorbei, die Sache mit der „südländischen Piazza-Atmosphäre“ auf dem Alten Markt, von der Lokalpatrioten schwärmen, relativiert sich spätestens, wenn im Straßencafé der Tiefkühlapfelstrudel auf den Tisch kommt mit Päckchensoße und Sprühsahne.

„Was soll das Gejammer über die Qualität des hiesigen Einzelhandels, wenn die Leute, die wirklich etwas ausgeben können, zum Einkaufen nach Düsseldorf oder Münster fahren?“

Der so schimpft, ist Walter Aden, 77 Jahre alt, Krawattenträger und gebürtiger Oldenburger. 18 Jahre hat er als Geschäftsführer die Dortmunder Industrie- und Handelskammer geleitet. Und seit er im Ruhestand ist, kämpft er ehrenamtlich für das Wohl seiner Wahlheimat. Er sitzt im Vorstand der Theater- und Konzertfreunde, hat den Förderverein der Stadt- und Landesbibliothek zur schlagkräftigen Lobbyistentruppe ausgebaut und lässt keine Gelegenheit verstreichen, den örtlichen Geldadel wie auch die Lokalpolitiker dazu aufzurufen, sich zu ihrer Stadt zu bekennen.

Warum strengt sich Dortmund nicht richtig an, wenn es darum geht, sich überregional zu verkaufen?, fragt Aden erregt: „Warum rühren die nicht mal richtig die Werbetrommel?“ Zu preisen gebe es genug: Die Technische Universität der Stadt findet Aden hervorragend, ebenso die medizinische Versorgung, es gibt hier außerdem den größten Technologiepark Deutschlands. So viel Gutes also – und nicht immer nur: Borussia.

Die Sache mit dem künstlichen Phoenixsee im Stadtteil Hörde würde sich in der Werbetrommel auch gut machen. Da hebt das Nashorn fast schon ab, so heftig schlagen seine Flügel.

In einer gigantischen Anstrengung wird das ehemalige Stahlwerksareal Phoenix-Ost zu einem Quartier mit nagelneuen Ufergrundstücken rund um ein künstliches Gewässer umgebaut. Am 9. Mai fallen die Bauzäune. Dann können die Dortmunder dort flanieren, wo sich vor kurzem noch auf der Fläche von 300 Fußballfeldern eine Mondkraterlandschaft erstreckte. Hier war es, wo Jörg Stüdemann einst die Rußpartikel auf den Teller sanken. 40 Jahre ist das her. Jetzt wird die Hölle von Hörde ein Ausflugsziel für die 575 000 Dortmunder, erreichbar per U-Bahn, nur drei Kilometer Luftlinie von der City entfernt.

Wer es sich leisten konnte, kaufte eines der Grundstücke, auf denen Einfamilienhäuser gebaut werden dürfen, mit Südlage und Seeblick. Gentrifizierungsgefahr wurde auch schon ausgemacht und postuliert. Doch allen bleibt die Uferpromenade mit dem Segelhafen als Mittelpunkt einer künftigen maritimen Restaurationsmeile.

Westlich des künstlichen Idylle wird mit viel EU-Geld derweil die Infrastruktur für einen weiteren Technologiepark geschaffen, der die Absolventen der Dortmunder Universität dazu animieren soll, ihre Ideen in der Heimat zu verwirklichen statt in Berlin. Jörg Stüdemann, der Macher im Rathaus, nennt diese Tricks der Stadtentwicklung nicht ohne Stolz „Cluster-Strategien“.

So einen schönen Neologismus hat Ingo Grabowsky für seinen Traum nicht parat, das „Europäische Schlagermuseum Dortmund“. Zurzeit ist das allerdings noch ein eher flügellahmes Nashorn. Grabowsky, hauptberuflich Slawistikdozent an der Universität Bochum, hat weder einen Standort für sein Museum noch Sponsoren, die ihm die Einrichtungskosten von rund drei Millionen Euro spendieren wollen. Dafür aber klare Vorstellungen vom Ausstellungskonzept: Völkerverbindend soll die Sache angelegt sein, neben dem populären deutschen Liedgut will er alle Spielarten des populären Liedes von der italienischen Canzone übers russische Repertoire bis zum Türkei-Pop beleuchten.

Das, findet Grabowsky, passe zu einer Region, die seit Jahrhunderten und bis heute von Zuwanderern geprägt ist. Und innerhalb des Ruhrgebiets gehört sein Museum unbedingt nach Dortmund, in den Dunstkreis der legendären Westfalenhalle, wo die Stars seit den 20er Jahren alle aufgetreten sind. Wie groß die potenzielle Zielgruppe in dieser Gegend ist, zeigte sich, wenn auch auf unschöne Art, Ende März, als eine Autogrammstunde der aktuellen Deutschland-sucht-den-Superstar-Finalisten im benachbarten Oberhausen derart überrannt wurde, dass es zu Verletzten kam und die Veranstaltung abgebrochen wurde.

Das Jahr 2014 hat Grabowsky für die Eröffnung ins Auge gefasst. Dann soll in Dortmund übrigens auch das DFB-Fußballmuseum eröffnet werden, direkt gegenüber vom Hauptbahnhof. Und vielleicht ist dann ja auch das „U“ fertig, das in den unteren Etagen schon eine Eröffnung nach der anderen feiert, während in den oberen noch gewerkelt wird.

Vor Stüdemanns Rathaus steht übrigens auch ein geflügeltes Nashorn. Es ist verziert mit nicht weniger als der ganzen Welt.

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