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Panorama: Ein Leben ohne Fahrkarte

Sie ist stolz, sie ist modisch gekleidet, sie telefoniert mit dem Handy. Man sieht ihr die Armut nicht an, und sie selbst würde sich niemals arm nennen. Aber Daniela, 14 Jahre, kann sich keine Kinokarte leisten, auch keine Bustickets. Ein Fallbeispiel für die Frage: Was ist Armut in Deutschland?

Daniela B. ist ein armes Kind. Aber man kann mit Daniela auf dem Handy telefonieren. Daniela und ihr Handy gehören zusammen. Benutzt die Armut Handys? Daniela ist 14 Jahre alt. Und wie sie so dasitzt, in dem hinteren Raum des Schülerladens in Berlin- Wedding, scheint es unmöglich, die Armut an ihr zu entdecken.

Jedes fünfzehnte Kind in diesem Land lebt auf Sozialhilfeniveau. Wenn die Reformen der Agenda 2010 greifen – speziell das Arbeitslosengeld II, könnte es bald jedes zehnte Kind sein, warnen Wohlfahrtsverbände. Aber was bedeutet Armut? Sozialhilfe soll Armut ja gerade verhindern. Die absolute Armut, die die physische Existenz bedroht, ist in Deutschland sehr selten – Hunger leiden auch die Armen in der Regel nicht. Wer in diesem Land arm ist, ist relativ arm: Der Maßstab ist das Durchschnittseinkommen der Bevölkerung. In Berlin lag das nach dem Armutsbericht von 2002 bei 2800 Mark netto. Wer weniger als die Hälfte davon zur Verfügung hat, gilt landläufig als arm.

Daniela schaut jedem geradewegs ins Gesicht. Da ist nichts Kleinlautes, keine Spur von Unsicherheit. Und was sie trägt, könnte das nicht jede tragen? Rot-schwarz gestreiftes Top, ärmellos. Es steht ihr. Es passt zu ihren langen, blonden Haaren. Daniela ist dünn. Aber höchstens die ganz Alten würden bei dünnen Kindern wie ihr an Hunger denken. Dünn ist sowieso das ganz falsche Wort. Daniela hat genau die Figur, um die viele andere Mädchen sie beneiden. Model könnte sie damit werden. Und ist die Kinderarmut in Deutschland nicht ohnehin übergewichtig? Kinder mit Big-Mac-Figur sind arme Kinder, nicht Daniela mit ihren 43 Kilo. Ihre Armut ist unsichtbar.

Vor fast einhundert Jahren, als der Maler Egon Schiele Proletarierkinder malte, war das anders. Schiele registrierte genau die „Verwüstungen der schmutzigen Leiden, denen diese an sich Unschuldigen ausgesetzt sind“. Staunend sah er „die seltsamen Veränderungen der Haut, in deren schlaffen Gefäßen dünnes, wässeriges Blut und verdorbene Säfte träge rieseln“. Und wer heute Beschreibungen des Londoner East Ends zur Zeit Oscar Wildes liest, muss schon robust sein, um die Lektüre unbeschadet zu überstehen.

Ein Arbeitslosenhilfekind

Nein, die Armut heute bei uns sieht man nicht. Dabei wissen wir doch, dass das Unsichtbare unser Leben bestimmt. Die Kapital- und Informationsströme, die unser Dasein lenken, sieht auch keiner. Das Wirklichste ist das Unsichtbare. Und doch sind wir Augenmenschen geblieben: Was nicht sichtbar ist, existiert nicht. Das zu glauben, ist ein Schutz. Und eine Gefahr.

Im Wedding gibt es mehr Kinder als im Berliner Durchschnitt. Daniela ist im Wedding geboren. Und da es im Wedding sonst von allem eher weniger gibt als im Berliner Durchschnitt – bis auf Kinder eben – , gibt es auch weniger Kinder mit durchschnittlich verdienenden Eltern. Überhaupt sind die in Großstädten seltener, jeder achte unter 18 Jahren lebt in Sozialhilfehaushalten.

Sozialhilfe? Daniela kennt das Wort nicht einmal. Sie ist kein Sozialhilfekind, sie ist nicht mal ein Arbeitslosenhilfekind. Ihr Vater hat in einem Kaufhaus gearbeitet. Jetzt ist er arbeitslos. Was ihr Vater bekommt, weiß Daniela genau: Arbeitslosengeld. Und sie weiß auch, wie viel. Danielas Vater bekommt 620 Euro im Monat. Nicht viele Kinder wissen, was ihre Eltern verdienen. Aber Daniela hat sich alles genau gemerkt. Denn aus dieser Rechnung speist sich ihre ganze Empörung. Etwas mehr als 200 Euro braucht ihr Vater für die Miete. Und dann sind da noch so Nebenkosten. Daniela hat das eingesehen. Früher sind arme Kinder erfroren, wenn es kalt wurde, Heizen kostet Geld. Soll ihr Vater ruhig die Heizung bezahlen. Am Ende aber, rechnet Daniela, und ihre Oberlippe zittert, bleiben noch 150 Euro für beide. Für einen ganzen Monat. Es klingt, als spreche sie von unermesslichem Reichtum. Und davon, sagt Daniela, kriege ich ganze 15. Sie lässt ihre untere Gesichtshälfte fallen. Die aus ihrer Klasse kriegen fast alle 50 Euro. Man sieht Daniela an, dass sie nicht bereit ist, darüber zu diskutieren. Guck mal, sagt sie und klingt, als wäre sie nicht 14, sondern mindestens 16, ich habe doch bestimmte Bedürfnisse. Sie sei Raucherin und manchmal – selten – trinke sie etwas. Und irgendwann möchte sie auch mal verreisen. Daniela denkt an eine Kreuzfahrt. Sie ahnt den Einwand, dass Kreuzfahrten teuer sind, also setzt sie gleich hinzu: „Ich liebe Schiffe. Und das Meer.“ Obwohl sie es nicht kennt.

Wo warst du in den Ferien? Das Mädchen versteht die Frage nicht. In Wedding. Wo bitte soll sie denn sonst sein? In Paris? Paris kennt sie. Nun gut, nicht direkt Paris, aber Eurodisneyland. Es war ein Super-Sonderangebot. 17 Stunden hin mit dem Bus, 17 Stunden zurück, ohne Zwischenübernachtung. Aber es war schön. Das war die einzige Urlaubsreise in Danielas Leben. In den Ferien war sie immer beim Paketdienst. Ich habe dort ein Praktikum gemacht, sagt sie. Daniela spricht das Wort „Praktikum“ mit Würde aus. Unentgeltlich war das natürlich. Aber das störte sie nicht. Sie stellte sich immer vor, woher die Pakete kommen. Pakete findet Daniela romantisch. Sie würde auch gern mal eins kriegen.

Ein paar Sätze weiter ist klar, dass Daniela jemanden kennen gelernt hatte, der gerade beim Paketdienst jobbte, und nun teilte sie alle seine Schichten mit ihm – volle Arbeitstage –, und er teilte dafür sein Frühstück mit der blonden Daniela. Und das Mittagessen auch. Schon dafür, ahnt man, liebt sie den Pakete-Jungen. Und sie merkt nicht einmal, wie sie sich widerspricht. Sie brauche nichts zu essen, eigentlich esse ich nie, hatte sie vorhin noch erklärt, und sich die blonden Strähnen von den Augen gestrichen.

Im Grunde gibt es nur drei Dinge in Danielas Leben: ihr Handy, den Kreuzfahrttraum und das Keyboard im Schülerladen. Zu Hause hat sie keins. Nun gut, und jetzt eben den Jungen vom Paketdienst. Trotzdem ist sie jeden Tag, auch in den Ferien, kurz nach acht zu Hause bei ihrem Vater. Das liegt an der BVG. Nach 20 Uhr muss man im Bus vorn einsteigen, da haben Fahrgäste ohne Fahrschein es schwer. Daniela hat kein schlechtes Gewissen, schwarzzufahren. BVG-Fahrscheine sind etwas für Besserverdienende, Menschen mit Fahrscheinen kommen aus einer komplett anderen Welt.

In der Disco sind ohnehin alle doof

Armut ist, was einem die Welt kleiner macht. Armut zieht eine unsichtbare Grenze durch das Leben. Daniela geht wie andere auf der Straße und hat doch zu den meisten Türen keinen Zutritt. Sie kann von ihren 15 Euro Taschengeld nicht wie andere in die Disco gehen, das kostet mindestens fünf. Ihr Mund wird jetzt klein und schmal wie eine Narbe. Auch das ist Armut: Mehr Narben zu haben als andere. Es bedeutet, unempfindlich geworden zu sein an dieser Stelle. Daniela hat schon viele solcher Stellen. Sie klagt nicht, sie steht da drüber. Die Typen in der Disco, wo die anderen hingehen, seien ohnehin doof. Sie kann auch nicht ins Kino gehen. Kino, findet Daniela, sei nun wirklich völlig uncool. Die Filme, die sie sehen will, lädt ihr Ex-Freund für sie aus dem Internet runter. Vor allem Satanistenfilme, sagt Daniela, die am liebsten Satanistenmusik hört. „Sieht man mir nicht an, oder?“ Musik und Filme wie eine unendliche Rache. Daniela lächelt.

Das macht sie nicht oft. Natürlich ist sie auch schon erwischt worden ohne Fahrschein, aber es war nicht so schlimm. Sie musste zwar ihre Adresse angeben, aber ihr Vater war dann bei der BVG und sagte, die kenne er nicht, die wohne überhaupt nicht bei ihm. Das war Notwehr. Was sollte er denn machen? Gott sei Dank hat er nicht geschlagen. Dabei hätte sie es beinahe verstanden. Sollte er 40 Euro von 150 im Monat ausgeben für eine Strafe? Arm zu sein bedeutet, dauernd unter Druck zu stehen, ohne Zugriff zu den Ventilen zu haben. Also bleiben nur Explosionen. Schläge? Daniela ist Schläge gewohnt. Früher ist sie manchmal vor ihnen zu ihrer Mutter geflohen, aber bei der lebt schon ihr Bruder, und zwei Kinder waren ihr zu viel.

Vielleicht ist das das Schlimmste am Armsein – es ist im Grunde die Erfahrung, zu viel zu sein. Manchmal denkt Daniela, ohne die Enge zu Hause, ohne den Streit ums Geld hätten ihre Eltern es besser miteinander ausgehalten. Also ist Armut auch das: ein Kreislauf, der alles kaputt macht.

Daniela weiß, dass die Schläge des Vaters nicht unbedingt sie meinten. Er kann nur nicht damit umgehen, wenn etwas kompliziert wird. Manchmal kocht er sogar was. Meistens etwas mit Fleisch. Daniela isst kein Fleisch, aber das weiß ihr Vater nicht. Sie würde sich auch nie trauen, ihm das zu sagen. Weil das alles schon wieder so kompliziert machen würde, und dann rastet ihr Vater aus. Daniela vermutet, das ist so bei Erwachsenen, überhaupt bei Leuten, die ihr Leben nicht im Griff haben. Und wer seine Arbeit verliert, hat sein Leben nicht im Griff. Arbeitslose Eltern sind unausstehlich. Genau wie Sozialhilfeeltern. Erwachsene, findet Daniela, müssen etwas zu tun haben. Die kommen sonst nicht klar. Erwachsene sind nun mal viel stumpfer als Kinder, sie haben kein Talent zum Abhängen.

Erwachsene können nicht mal mehr träumen. Daniela wüsste auch nicht, wovon ihr Vater träumen sollte. Und das alles zusammen macht ihn eben so berechenbar-unberechenbar, dass Daniela, wenn er wieder gekocht hat, das Fleisch auf ihre Gabel spießt, die Augen fest zumacht und hinterher jedesmal überzeugt ist, dass sie nie wieder in ihrem Leben etwas essen wird. Wie sie das erzählt, mit zusammengekniffenen Augen, ahnt man manchmal noch das Kind, das Daniela war. Aber es währt nur ganz kurz. Denn Daniela wirkt sehr erwachsen, sehr kühl. Das hat sie mit anderen armen Kindern gemein. Ihre Kindheit ist kürzer, traumloser. Armsein ist uncool, also muss man das kompensieren. Kein armes Kind würde sich gefallen lassen, so genannt zu werden. Es ist nichts Weiches mehr in Danielas Gesicht.

Kindsein bedeutet, unter dem Schutz der anderen zu stehen. Unter einer unsichtbaren Hülle aus Zuwendung und Fürsorge zu leben. Wie in einem Treibhaus. Man muss das gut klimatisieren. Doch irgendwie hat diese Gesellschaft kein Talent dafür, auch wenn sie gerade alles versucht, dass die Hüllen für über eine Million Kinder nicht ganz zerreißen.

Nach dem Krieg, hatte Danielas Oma gesagt, waren alle Menschen gleich. Das hieß vor allem: Sie waren alle gleich arm. Irgendwie scheint sich ihre Oma trotzdem gern daran zu erinnern. Vielleicht spürt man die Armut nicht, wenn alle arm sind. Armut ist nicht gleich Armut. Armut ist ein Kontrastphänomen. Manchmal denkt Daniela, irgendeine Kraft wohnt im Innern dieses Landes und reißt es immerzu mitten entzwei. Vor allem in Arm und Reich. Auch in reiche Rentner und arme Kinder. Steht jeden Tag in der Zeitung, das ist der Generationenkonflikt, hat ihr Paket-Freund gesagt. Daniela liest keine Zeitung. Aber sie glaubt, dass ihre Oma heute auch nicht viel reicher ist als 1945. Oder nur ein bisschen. Und manchmal schenkt sie ihr von ihrer Armut zehn Euro.

Wer künftig das Arbeitslosengeld II erhält, soll, wenn es nicht 297 Euro im Westen, 285 Euro im Osten übersteigt, vielleicht für seine Kinder einen Zuschlag von 140 Euro bekommen. Die Politiker denken noch darüber nach. Sozialhilfeempfänger kriegen das nicht, obwohl sie meistens mehr Kinder haben als andere. 140 Euro? Danielas Blick wird weit. Ein Sozialhilfeempfängerkind ist sie schließlich nicht. Sie rechnet. Aber ihr Vater hat ja glatt das Doppelte, 620 Euro. Sind sie also in Wahrheit – wohlhabend? Wohlhabende Arme? Natürlich, Daniela weiß selbst, dass sie privilegiert ist. Sie hat ein eigenes Bett in einem eigenen Zimmer. Mit Fernseher. Sie kennt eine Familie, die haben mal mit 27 Personen in drei Zimmern gewohnt. Waren aber Kurden. Und viele türkische Kinder schlafen ohnehin zu zweit in einem Bett. In deren Augen lebt Daniela wie eine Prinzessin.

Abgehauen

Wirklich wohlhabend war Daniela nur einmal. Das war vor ein paar Monaten, als sie ihrem Vater weglief („zu viel Stress!“). Erst tauchte sie bei einer Freundin unter, die schon drei Kinder hatte, denn Daniela hat nur ältere Freunde. Mit Gleichaltrigen kann sie nichts anfangen. In die Schule ging sie nicht mehr, als sie auf der Flucht war, aber plötzlich musste Daniela auf die drei Kinder der Freundin aufpassen. Das war noch mehr Stress als zu Hause, merkte Daniela und meldete sich beim Jugendnotdienst. So kam sie ins Heim. Und das war toll, sagt sie. Jeden Mittwoch gab es sieben Euro Taschengeld und jeden Sonnabend noch mal 9 Euro 25 Verpflegungsgeld plus Taschengeld. Sie hat das mal zusammengerechnet, fast 50 Euro, und das in nur drei Wochen. Da konnten die aus ihrer Klasse sich aber verstecken.

Seit Daniela im Heim war, ist ihr Leben in Ordnung. Das Jugendamt hat mit ihrem Vater gesprochen. Und jetzt ist alles geregelt. Schlagen darf er nicht mehr, und seit September bekommt sie auch mehr Taschengeld. Vor allem braucht sie das, um sich etwas zum Anziehen zu kaufen. Immer wenn sie ihren Vater fragte, hatte der gerade kein Geld. Und wenn er welches hatte, brachte er ihr manchmal einen Pullover oder ein Kleid mit. Die waren dann entweder zu groß oder zu klein oder zu hässlich. Meist hat sie sich aus den Sachen etwas anderes genäht, denn darauf, weiß Daniela, kommt es an: Du musst dir selbst zu helfen wissen. In dieser Hinsicht, findet Daniela, 14 Jahre alt, neunte Klasse, hat der Bundeskanzler Recht. Das hat sie selber erfahren. Ein Freund hat ihr einen Putzjob besorgt. Privat, bei einer Familie, Dienstag und Freitag, zwei Stunden, für 30 Euro pro Woche! Die Schule schafft sie trotzdem irgendwie. „Ich bin nicht so für Schule“, sagt sie. Polizistin will sie werden oder zur Armee. Also andere Menschen kontrollieren? Daniela nickt. Die Unordnung unter den Menschen sei noch viel größer als die in ihrem Zimmer. Irgendjemand muss da System reinbringen.

Sie spielt noch ein bisschen auf dem Keyboard. Abwechselnd Celine Dion und Beethoven. Bei Daniela klingt die „Ode an die Freude“ fast wie der „Titanic“-Titelsong. Kein echter Satanist würde das aushalten. Dann springt sie auf. Kurz vor acht. Sie muss ihren Bus noch kriegen. Den letzten zum Hinten-einsteigen.

Name von der Redaktion geändert

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