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Panorama: "Ein Regenschirm für diesen Tag": Suchet nicht, so werdet ihr finden. Nur was uns anschaut, sehen wir

Da geht einer durch die Stadt. Langsam, verstohlen, ganz ohne Pläne, ohne handfestes Ziel.

Da geht einer durch die Stadt. Langsam, verstohlen, ganz ohne Pläne, ohne handfestes Ziel. Mögen die anderen rennen, er schlendert, verweilt, betrachtet die Welt, die Menschen und Häuser. Ihm fehlt nichts, ihm fehlt alles. Niemand hat ihn nach seiner Zustimmung zu dieser Art Leben gefragt. Wo also könnte einer wie er sich zuhause fühlen. Seine Welt ist die Straße, und bisweilen spürt er den Wunsch, etwas von dieser Welt heimzuholen in seine Wohnung. Dann sammelt er großgezackte Platanenblätter vom Asphalt und verteilt sie mit liebevollster Sorgfalt im Zimmer.

Leben im leeren Zimmer

Es ist eine traurige Bühne für diesen Zauber, schreiend leer, seit ihn die Freundin verlassen hat, weil er so wenig Sinn für die Notwendigkeiten des Lebens besitzt. Jetzt lässt er die Blätter schneien und das Zimmer verwandelt sich in eine stille, tröstliche Landschaft. Es ist ein Anfang. Bald wird er das leere Zimmer aushalten können, darin leben.

Da geht einer durch die Stadt, ganz Auge und Ohr. Und schnell erinnert man sich beim Lesen dieser Expedition in bekanntes Gelände an einen anderen Abenteurer des Gewöhnlichen, an Franz Hessel, den staunenden Flaneur Berlins, den das Flanieren ebenso zum Verdächtigen machte, das zwecklose Schreiten und Schauen, das Stehenbleiben und Innehalten in einer Stadt, die das Tempo zu ihrer Religion gemacht hat. "Hierzulande muss man müssen", wusste schon Hessel vor über siebzig Jahren, "sonst darf man nicht. Hier geht man nicht wo, sondern wohin. Es ist nicht leicht für unsereinen."

Leichter ist es auch für Wilhelm Genazinos Müßiggänger nicht geworden, diesen umherschweifenden Melancholiker, den die traurige Suche antreibt nach einer Mitte, die immer leer bleiben muß. "Dass ich ohne meine innere Genehmigung auf der Welt bin", diese traurige Einsicht lässt ihn suchen nach etwas, das ihm diese Genehmigung nachträglich erteilen könnte. Für eine halbe Stunde vielleicht. Für einen Tag. Oder für das restliche Leben gar.

Denken wir noch einmal an Franz Hessels vielzitiertes Wort von den "Fatalisten des Zufalls". Diese kindlichen Seelen haben nur eine Sicherheit: "Suchet nicht, so werdet ihr finden. Nur was uns anschaut, sehen wir." Und Genazinos Held ohne innere Genehmigung fängt die Stadt auf wie ein offenes Objektiv. Er sieht, was viele nicht sehen wollen. Die schäbigen kleinen Episoden der alltäglichen Armut, die Mühseligkeit, die vielen Traurigkeiten und manchmal - blitzhaft - in alledem die Splitter eines vergessenen Glücks. Dann glänzen mit einem Mal die Auslagen der Geschäfte wie kleine Altäre, die Briefkästen und Klingelschilder der Häuser strotzen vor geheimer Magie. Und weil die Kinder, noch frei vom Fluch des Geschäftssinns und der heillosen Tüchtigkeit, seine insgeheimen Verbündeten sind (auch diese Empfindsamkeit teilt er mit Hessel), schenkt er ihnen und ihren sinnlosen Spielen die zärtlichste Aufmerksamkeit. Ein Junge setzt sein kleines Segelboot in einen Brunnen, ein anderer baut eine Höhle auf dem Balkon.

Es gehört zu den vielen Wundern in diesem an Wundern so überreichen Buch, wie ausgerechnet dieses rührende Versteck am Ende bewahrt wird. Der ungeladene Beobachter kehrt am nächsten Morgen zurück: "Ich schaue eine Weile hoch, der Junge lässt sich nicht blicken, vermutlich ist er in der Schule. Nach ein paar Minuten betritt eine Frau, wahrscheinlich die Mutter, den Balkon. Sie holt einen Plastikeimer in die Wohnung und bewegt sich dabei so, dass sie die Höhle nicht beschädigt."

Wenn es nicht allzu sonderbar klänge, weil Wilhelm Genazino nun ganz gewiss nicht mehr entdeckt werden muss (wer lesen wollte, konnte ihn längst über viele Romane hinweg als eine der eigensinnigsten und nuanciertesten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur wahrnehmen und schätzen), mit diesem Buch sollte Genazino endlich den unverdienten Titel des unbekannten Bekannten verlieren.

Schule der Wahrnehmung

"Ein Regenschirm für diesen Tag" ist ein so glückhaft gelungenes Buch, so jenseits aller Moden und literarischen Großmäuligkeit, dass man, am Ende der gerade mal 170 Seiten angekommen, gleich wieder von vorn beginnen möchte. Noch einmal durch diese kleine Schule der Wahrnehmung gehen, noch einmal in diesen Alltagsminiaturen und Weltverzauberungsnotaten das Staunen über die Merkwürdigkeiten des Lebens wiedererlernen.

Die Souveränität des Tons, die Wilhelm Genazino heute gelingt, hat tiefe Wurzeln in einer inständigen Liebe zu den Worten. Zu dem, wozu Literatur da sein sollte - uns hineinzuführen in die geheimen Bezirke der Seele, dahin, wo wir nach unserer inneren Genehmigung suchen und zaghaft die letzten Fragen berühren. Vom Temperament her freilich ist Genazino ein melancholischer Humorist. Nach seinem "Jahrhundertbuch" befragt, hat er einmal Samuel Becketts "Namenlosen" genannt. Und dieses "Schreiben ohne Eitelkeit, ohne Gespreiztheit, ohne jegliches Auftrumpfen", das er bei Beckett für sich entdeckte, benennt zugleich Genazinos eigene Kunst. Eine Kunst der Untertreibung, der Bescheidenheitsgesten und leisen Dramen. Sie huldigt "nur der Verwunderung, ein Mensch zu sein". Nicht mehr und nicht weniger steht hier auf dem Spiel. Die Ernsthaftigkeit seines schriftstellerischen Projekts indes beschwert nicht die Virtuosität seiner Mittel.

Auch Beckett, so wie Genazino ihn liest, ist ein humoristischer Schriftsteller. Und so gibt es auch in diesem Roman Szenen und Formulierungen zuhauf, die einen heiter stimmen. Allein die wundervoll absurde Idee, seinem Flaneur den Beruf eines Schuhtesters zu geben (für Geld testet er englische Luxusschuhe und verfasst strenge Gutachten über sie), beweist die höhere Ironie eines Erzählers, der solche Einfälle nie um der schnellen Pointe willen verschenkt.

Wilhelm Genazino vermag aus dem Leichtsinn einer solchen Idee so viel Ernst zu schlagen, aus jedem Liebesunglück seines Helden soviel existentielle Sehnsucht, daß jede Empfindung changiert in herrlichster Zweideutigkeit.

Im Archiv der Erinnerung

Selbst das scheinbar wahllose Streunen des Auges entpuppt sich als zielgerichtete Arbeit im Archiv der Erinnerung. Ein "Institut für Mnemosyne" ersinnt der Held in einer übermütigen Laune, und noch in diesem Einfall verbirgt sich der schüchterne Wunsch, dem Einzelnen seine Würde zurückzugeben, das "unersetzliche und ganz unüberbietbare Gefühl, dass jeder Mensch immer ein und dieselbe Person ist mit einer einzigen, langsam anwachsenden und reicher werdenden Gedächtnisgeschichte."

Im Elend lächerlich, in der Lächerlichkeit erhaben, so anmutig sind die wahren Helden in der Literatur. Und dazu genügen ihnen die allereinfachsten Abenteuer: die Gänge durch die Stadt, scheu und verdächtig, fast unsichtbar, doch beschenkt mit Augen, die mehr zu sehen verstehen als unsere eigenen. Denn "es ist nicht möglich, in den Straßen umherzugehen, ohne etwas zu denken."

Sabine Küchler

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