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Przychowskis Erinnerung an Frankreich: Ein Städter am Viehgatter

Ein Deutscher besucht nach 56 Jahren ein französisches Dorf, in dem er Kriegsgefangener war

Von Hans von Przychowski,

Brin-sur-Seille

Am Vormittag des 20. Januars 1947 stand der 19jährige „PG“ („Prisonnier de Guerre“, Kriegsgefangener) gerade auf dem Misthaufen des Bauernhofes in dem französischen Dorf Brin-sur-Seille, als ihn ein Telegramm mit der Ankündigung seiner Entlassung aus der Gefangenschaft erreichte. Da hatte er sich schon längst vorgenommen, einmal als freier Mann in das Dorf zurückzukehren.

Immerhin 56 Jahre hat es gedauert, bis er sich seinen Wunsch erfüllte. Alles hat sich verändert in den 56 Jahren. Die Bahnstrecke am Dorfeingang ist verschwunden. Neue, schmucke Häuser säumen die Hauptstraße. Wir parken den Wagen auf dem Dorfplatz. Und wo war der Bauernhof von damals? Ein modernisiertes Haus könnte es sein. Der Kuhstall und die darüber liegende Tenne sind als Wohnräume ausgebaut. Dort, wo der Pferdestall stand, die Tränke und der Misthaufen, ist ein gepflegter Steingarten entstanden. Zunächst etwas misstrauisch, dann aber freundlich und hilfsbereit erweist sich der Hausherr, als ich frage, ob dies einst der Hof der Familie Didelot gewesen sei. Ein überraschendes Lächeln. Ja, das stimmt. Und – er weist auf die gegenüberliegende Straßenseite hin – „dort steht die Tochter von Emile Didelot vor ihrem Haus“. Emiles Tochter und Sohn waren damals kleine Kinder, als ich versuchte, trotz fehlender landwirtschaftlicher Grundkenntnisse die Gefangenschaft als angeblicher Landarbeiter etwas angenehmer zu gestalten als in dem Lager in Luneville.

Unsere Anwesenheit im Dorf erregt Aufsehen. Emiles Tochter erkennt mich tatsächlich wieder und strahlt. Die Eltern sind inzwischen gestorben, und längst auch die kleine, tüchtige Großmutter, die den großen Haushalt fest im Griff hatte. „A la Soup" rief sie zu den Mahlzeiten und sowohl zum Frühstück wie zum Abendbrot beobachtete sie den Prisonnier aus dem für sie fernen Deutschland, wie er sich doch tatsächlich die Wurst in Scheiben schnitt und damit sein Brot belegte. Und dann versuchte sie vergeblich, die für Franzosen ungewöhnliche Prozedur nachzuahmen. Und da war der blinde Großvater, der nicht müde wurde, dem Prisonnier zu erzählen, wie er 1871 an der Eisenbahnstrecke stand und mit Tränen in den Augen die Züge beobachtete, in denen die Deutschen das Gold der Franzosen abtransportierten. Doch niemals fiel gegenüber dem Prisonnier ein unfreundliches Wort.

Als ich an einem Tage im Herbst 1946 in der Mittagspause unter dem Pflaumenbaum saß und mich an den Früchten gütlich tat, kamen die Kinder, etwas scheu zunächst, zu mir, um sich mit mir zu unterhalten. Sie wollten alles über das ferne und unbekannte „Allemagne“ wissen und auch, ob es denn dort wilde Tiere gäbe. Nach der Weinlese traten sie nach alter Sitte und mit großem Hallo die Beeren in dem großen Bottich und naschten von dem frischen Most.

Nun müssen wir noch unbedingt den Bruder besuchen. Auch er empfängt uns mit großer Herzlichkeit. Sechs Prisonniers habe es in dem Dorf gegeben, von keinem habe man jemals wieder etwas gehört. „Sie sind der Erste, der uns besucht“, sagt er und erkundigt sich, wie es mir ergangen sei. Er wisse noch genau, damals sei ich so groß und so schlank gewesen und das Gesicht so schmal.

Neun Kühe hatte der Hof. Sie auf die Weide zu bringen, war für mich, den unerfahrenen Städter, stets eine Zitterpartie. Die Gatter auf der umzäunten Weide waren geschlossen. Ich trieb die Kühe vor mir her, musste dann aber an ihnen vorbei an die Spitze der Kolonne, um das Gatter zu öffnen. Meinen Vormarsch nutzen die Kühe, um umzudrehen und zurück in den Stall zu laufen, in dem sie es offenbar gemütlicher fanden als auf der Wiese. Schließlich gelang es mir, wenigstens einige Kühe abermals zu überholen und am Ende der Kolonne wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Nun aber liefen die ersten Kühe an dem geöffneten Gatter vorbei in Richtung Wald und mussten nun wieder zur Rückkehr animiert werden, ohne, dass sie zum Hof zurückrannten. Am Schluss der Prozedur waren dann einige Kühe auf der Weide, der Rest im Stall, was Gabriel oder Emile veranlasste, mich mit einigen landestypischen Schimpfworten zu bedenken.

Der Brennofen, im dem die Dorfbewohner einmal im Jahr ihre Mirabellen zu Schnaps verabeiten durften, ist ebenso verschwunden wie die große Scheune, in dem das Dorf das Getreide gedroschen hat. Das Flüsschen Seille führte im Herbst 1946 Hochwasser. Wir Prisonniers nutzten die Gelegenheit, zu schwimmen, eine Aktion, die fast volksfestartige Folgen hatte, weil sich Groß und Klein versammelte, um zuzuschauen und zu beobachten, ob wir denn tatsächlich über Wasser bleiben würden. Im Dorf hatte tatsächlich niemand schwimmen gelernt.

Das alte Dorfgasthaus, in das die Bauern ihre Besucher aus der Stadt brachten, existiert nicht mehr, und natürlich gibt es auch eine Institution nicht mehr, den Trommler.

Damals wurden im Dorf noch die neuesten Behörden-Nachrichten und amtlichen Termine ausgerufen. Vom Bürgermeisteramt aus startete ein kleiner Mann mit einer großen Trommel und stark geröteter Nase. Und jeweils nach einem Trommelwirbel rief er lauthals seine Nachricht. In der kleinen Kneipe pflegte er eine Ruhepause einzulegen und sich ein Glas Wein oder auch mehrere Gläser zur Brust zu nehmen. Entsprechend undeutlicher wurden dann die Proklamationen. All dies gibt es nicht mehr und die jüngeren Bewohner des Ortes wundern sich, wenn ein ehemaliger deutscher Kriegsgefangener ihnen erzählt, wie es damals bei ihnen war.

Der Autor war von 1984 bis 1991 Mitglied der Chefredaktion des Tagesspiegels.

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