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Panorama: "Eine Brücke aus Papier": Die Einzelnen sind das Gesetz

"Meine liebe Schoniurotschka!", apostrophierte Boris Pasternak seine Schwester Josephina in einem Brief, den er der einen Monat zuvor nach Berlin Abgereisten im Juli 1921 nachschickte.

"Meine liebe Schoniurotschka!", apostrophierte Boris Pasternak seine Schwester Josephina in einem Brief, den er der einen Monat zuvor nach Berlin Abgereisten im Juli 1921 nachschickte. Und entschuldigte sich für das Ausbleiben seiner Briefe: "Ich habe geschrieben, aber bin in unzulässige, Hm-m, Globalität verfallen, und heraus gekommen ist Hämoglobin." Da ahnt der Leser schon, dass er nicht mit gefühlsduseliger Familienkorrespondenz zu tun hat. Briefe, erfährt man einige Zeilen weiter, hatten nach Pasternak das Gebot der "Gasförmigkeit" zu befolgen: "in seelisch gelöster Form die Grundsubstanz der Wirklichkeit" wiederzugeben. "Schreib unbefangen, Marienkäfer", ermunterte er die Schwester, "wie du so rumkrabbelst oder was dir im Köpfchen herumkrabbelt."

Die Revolution am Werk

Als wäre nicht die Geschichte, sondern ein Dramaturg am Werk gewesen, wurde dieser so zärtliche und doch so programmatische Brief an die Schwester der erste einer Korrespondenz, die Boris Pasternak mit seinen Angehörigen im Ausland von 1921 bis 1960 führte.

Am Werk war die Revolution. Den Pasternaks konnte sie nicht gewogen sein: Sie waren eine Familie wie aus dem Bilderbuch der vorrevolutionären Intelligentja. Die Mutter Rosalja Isidorowna war in ihrer Jugend eine namhafte Pianistin gewesen. Sie hatte zwar nach der Heirat die öffentlichen Auftritte aufgegeben, aber im Hause an der Miasnizkaja Uliza, wo Boris Pasternak aufwuchs, stand "tags und nachts offen das Klavier". Der pater familias Leonid Ossipowitsch, seinerseits ein Maler unbändigen Arbeitsdrangs, Freund Tolstojs und Illustrator der "Auferstehung", hatte sich mit seinem Werk einen so großen Ruhm erworben, dass man in Rußland mit dem Namen Pasternak noch 1921 nur den Maler von Jasnaja Poljana verband.

Doch nach der Oktoberrevolution verlor er mit der Schließung der staatlichen Malereischule, an der er lehrte, jede Möglichkeit des Gelderwerbs. Den Töchtern Lidja und Josephina wurde der Zugang zur Universität wegen ihrer nichtproletarischen Herkunft versperrt. Und weil auch die Gesundheit von Leonid Ossipowitsch und Rosalja Isidorowna unter dem Hunger der Revolutionsjahre gelitten hatte, entschloss man sich, nach Berlin auszuwandern, das in jenen Jahren von russischen Emigranten wimmelte.

Im September 1921 folgten Josephina, die bereits im Juni abgefahren war, Lidja und die Eltern nach. Nur die Brüder Aleksander und Boris blieben in Moskau. Man dachte an eine zeitweilige Trennung, bis sich die Lage in Rußland beruhigt hätte. Das trat nicht ein. Josephina heiratete und zog nach München, Lidja nach Oxford. Dort starben die Eltern, die vor den Nazis aus Berlin geflohen waren, 1939 die Mutter, 1945 der Vater. Mit den Schwestern korrespondierte Pasternak bis zu seinem Tod im Mai 1960. Von Lidja und Josephina Pasternak sorgfältig gesammelt, wurde der Briefwechsel vom Sohn des Dichters Jewgenij und dessen Frau Jelena 1998 im kalifornischen Stanford herausgebracht.

Im Deutschen ist die zweibändige Originalausgabe auf einen Band geschrumpft. Über die Auslassungen, die durch ausführliche Notate überbrückt werden, muss man sich nicht unbedingt grämen. Nur die Schreiben der Verwandten Pasternaks hätte man gerne gelesen, und ist froh, dass nicht alle Briefe des Vaters Leonid Ossipowitsch der Schere zum Opfer gefallen sind. Denn gerade an ihnen lässt sich die Nähe des Dichters zu seinen fernen Familienangehörigen genau ermessen. Aus den Briefen des Sohnes geht zunächst die grenzenlose Bewunderung hervor, die Boris Pasternak für die Eltern, den Vater zumal, empfand. Obwohl er immer wieder und mit beinah gereizter Ungeduld seinen Glauben an die eigene Berufung verlautbart, stellt der Dichter den Künstler-Vater oft als ein für sich selbst unerreichbares Vorbild dar.

"Lieber, geliebter Papa, du Wunder von einem Papa!", setzt er an. Es ist dann von einem Porträt die Rede, das Leonid Ossipowitsch gemalt hatte: "Dieses Bild wird vor mir stehen als stille künstlerische Suggestion, als stummer Auftrag, zu dessen Erfüllung ich mich dennoch niemals werde erheben können." Zuweilen schlug die Achtung für die Eltern in Selbstverkennung und Selbstbezichtigung um. "Ach, ich fürchte mich so, ich fürchte mich so vor euch - wenn ihr wüsstet!", liest man an anderer Stelle. Dabei verfolgte Leonid Pasternak mit stolzer Neugier den literarischen Fortgang des Sohnes. Beantwortete er mal einen Zornesausbruch des aufbrausenden "Ljowotschka" mit dem Hinweis auf ähnliche Kindheitsszenen, konnte er auch dem Dichter die gehörige Kritik oder das gebührende Lob zusprechen, wenn es um die Kunst ging.

"Fein schreibst du, Bruder", teilt er er dem zwischen Übermut und Verzagen schwankenden Sohn zu den Manuskripten mit, die er ihm zugesandt hatte. Und: "Du bist groß geworden, Borja, sehr. Gott sei Dank. Und wie ich mich freue, dass ich dich auf dieser Höhe gesehen habe!"

Kosenamen, Augenzwinkern

Es war ein Gespräch zwischen Gleichen, nicht bloß ein Plausch unter Blutsverwandten. Andererseits wären ohne diese geistige Nähe, die auch die Schwestern einschloss, die Briefe Boris Pasternaks an seine Angehörigen nicht denkbar. Briefe, geschrieben ohne Hemmung. Voll von Kosenamen, zwinkernden Anspielungen, chiffrierten Erinnerungen und Alltagsberichten nebst Ausbrüchen poetischen Überschwangs. Seiten, in die der Dichter alles hineinschüttete, was ihn im Privatleben sowie in Bezug auf Politik, Ästhetik und Dichtung beschäftigte.

Der Pasternak-Leser, von dem Marina Zwetajewa meinte, er sei immer ein Spion, ein unter Pasternaks Haut statt in seine Kammer blickender Späher, steht bei der Lektüre vor einer doppelten Ansicht: ins Subkutane und ins Zimmer des Dichters. Das Zimmer ist groß - Russland nach der Revolution, das zu beschreiben immer schwieriger wurde. Es sind die täglichen Bedrängnisse des Alltags in den "selbstverdichteten" Wohnungen, die tägliche Not und die bürokratischen Schikanen, der Kampf um ein Auskommen und die Turbulenzen der Liebe unter solchen Umständen. Es ist schließlich das "schreckliche, verkommene, irreale und schurkische" zwanzigste Jahrhundert, worin der Dichter nach Kräften versuchte, sich einen Platz für seine Arbeit zu erobern. Schon 1924 klagte er darüber, der Zeit stehe der Sinn nicht nach dem, was man Literatur nennt. Sich in solche "Massen,- Zensus- und vieltausendfachen Prozesse" einzuordnen, wie sie die Revolution in Gang gesetzt hatte, fiel Pasternak schwer. Er wusste, daß sie Gift sind für die Kunst.

Schaudern vor dem Krämergeist

"In der Kunst", schreibt er Josephina, "sind nur die Einzelnen Gesetz, nur allein die Ausnahmen." Die Revolution vertrug keine Ausnahmen. Die anfängliche Zuversicht Pasternaks, die neue Ordnung möge einst der Menschheit eine bessere Verfassung geben, machte bald der Einsicht in die Irrungen Platz. Ihm schauderte vor dem Krämergeist, der sich ausbreitete. Später musste er mit Entsetzen zusehen, wie die Weltheilskrämer das Leben Einzelner massenhaft auslöschten. Davon sprach man auf Umwegen, in Wendungen wie: "Er starb an der selben Krankheit wie der erste Mann der verstorbene Lisa".

Nicht immer erreichten solche Umschreibungen ihre Adressaten. Als in Deutschland zu leben für die jüdischstämmigen Pasternaks zu gefährlich wurde und sie eine Heimkehr erwogen, hatte Boris Pasternak seine liebe Mühe, den Eltern klar zu machen, dass das Klima in Stalins Rußland nicht minder bedrohlich war.

"Irgendwann, wenn wir am Leben sein werden und ein allgemeiner Friede uns zusammenführt, werde ich dir erzählen, was für unbeschreibliche Unglücksfälle ich aus nächster Nähe miterlebt habe, schlimmer als alles früher Erlebte", schrieb er im Februar 1940 an den Vater.

Zu jener Zeit sah der Dichter Freunde und Bekannten um sich verschwinden, verhaftet oder ermordet. Er musste um das eigene Leben bangen, und es ist tatsächlich ein Wunder, daß er den Säuberungen entging. All die Jahre trug ihn die Gewissheit, aus dem Erlebten müsse große realistische Prosa erwachsen. 1956, als er nach einer achtjährigen Unterbrechung den Briefwechsel mit den Schwestern wieder aufnahm, konnte er ihnen die baldige Erscheinung seines Romans "Doktor Zhiwago" ankündigen. Das Einzige, glaubte er, das ihn vor den Eltern hätte rechtfertigen können.

Trotz aller Drohungen von oberster Stelle ließ er den Roman in Italien veröffentlichen. Aber er überstand nicht die Schlammschlacht, in die er nach der Publikation hineingezogen wurde. Auf Drängen der sowjetischen Autoritäten musste er auf den Nobelpreis verzichten; zwei Jahre später erkrankte er an Lungenkrebs und starb am 30. Mai 1960. Die Schwester Lidja, zu seinem Sterbebett gerufen, erhielt das Visum erst zwei Tage nach der Beerdigung.

Aureliana Sorrento

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