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Panorama: Eine kleine große Geste - Berlin setzt die Flaggen auf Halbmast (Leitartikel)

Berlin zeigt Trauer: An einem der kommenden Tage werden in der Stadt die Flaggen auf Halbmast gesetzt. So kündigte es der Regierende Bürgermeister Diepgen an, nachdem ihn der Generalkonsul der Türkei darum gebeten hatte.

Berlin zeigt Trauer: An einem der kommenden Tage werden in der Stadt die Flaggen auf Halbmast gesetzt. So kündigte es der Regierende Bürgermeister Diepgen an, nachdem ihn der Generalkonsul der Türkei darum gebeten hatte. Dies ist eine ungewöhnliche, ja außergewöhnliche Geste, die besondere Anteilnahme signalisiert. Vor allem aber ist es die angemessene Geste: Berlin, Partnerstadt Istanbuls, fühlt mit, leidet mit, trauert mit. Das Erdbeben in der Türkei hat auch die Menschen hierzulande erschüttert. Auf einmal erscheint uns dieses sonst so ferne Land ganz nah. Die Türkei ist die Nummer Eins im Fernsehen, in den Zeitungen, in den Gesprächen unter Nachbarn, Freunden und Familien. Es wird über die Zahl der Toten gesprochen, die Stunde um Stunde steigt, über die Bilder von den Unglücksorten und über die eigenen Gefühle. Aber Deutschland hat nicht nur betroffen, sondern auch schnell reagiert. Finanzielle und tatkräftige Hilfe wurde versprochen und auch gleich geleistet. Rettungsspezialisten, Ärzte und Feuerwehrexperten waren bereits Stunden nach dem Beben im Einsatz. Es werden Spenden gesammelt, Feldbetten, Decken und Verbandszeug geschickt.

Was aber ist es eigentlich, das uns die Türkei plötzlich nah, jedenfalls näher erscheinen lässt? Wir wissen schließlich fast nichts von diesem doppelten Schwellenland, das zwischen Europa und Asien liegt und zwischen Wohlstand und Armut. Aber wir erkennen in den Opfern unsere türkischen Nachbarn wieder. Ihre Arbeit und ihre Freude prägen das Bild dieses Landes ebenso mit wie ihre Trauer und Wut. Das Land, aus dem sie stammen, ist uns jedoch weitgehend fremd - und je näher es uns in diesen Tagen kommt, desto mehr befremdet es uns. So wirkt Istanbul überraschend westlich und erschreckend wild zugleich. Westlich, weil hier der Konsum herrscht und nicht das Kopftuch; wild, weil den Behörden jede Ordnungskraft fehlt. In den vergangenen Jahren sind Millionen Menschen vom Land an die Ränder der großen Städte gezogen. Dennoch hat der Staat schweigend geduldet oder sogar unterstützt, dass aberwitzig klapprige Häuser immer noch weiter aufgetürmt wurden. Mehr als die Hälfte aller Wohnungen in Istanbul, einer Stadt mit fast zehn Millionen Einwohnern, soll illegal gebaut worden sein, vor allem mit billigstem Material. Was hier über Nacht entsteht, wird nicht mehr eingerissen - es sei denn, die Erde bebt. Wildwuchs statt Planung, Bestechung statt Bauordnung - die ganze Türkei ist ein Bauskandal.

Das groteske Ausmaß staatlicher Hilflosigkeit zeigt sich im Katastrophenfall. Ministerpräsident Ecevit spricht von Problemen bei der Organisation der Rettungsversuche. Chaos ist wohl das richtige Wort. Die Türkei, das Land an der Schwelle, wurde über Nacht weit zurückgeworfen. Doch wie viele Katastrophen birgt auch diese ihre Chancen. Die Türkei, dieses stolze, trotzige Land, muss um Hilfe bitten. Sie kommt, ganz besonders aus Deutschland. Ausgerechnet aus Deutschland. Hatte nicht dieses Deutschland in den Augen der Türkei dem Land den Weg in die Europäische Union verbaut, hatte es nicht kurdische Terroristen geduldet und die Angriffe von Rechtsextremisten toleriert? Und waren die Türken in unserer Wahrnehmung nicht die Ausländer, die uns die meisten Probleme gebracht haben? Das Beben bringt den Deutschen die Türken näher und den Türken die Deutschen. Offenbar leben wir doch viel selbstverständlicher zusammen, als es oft den Anschein hat. Deshalb zeigt die deutsche Hauptstadt Trauer: ein kleiner Trost in der Katastrophe.

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