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Einsturz des Stadtarchivs: "Raus, raus, raus!"

Die Erde erzitter, es rumpelt und knallt: Wie die Mitarbeiter und Gäste des Stadtarchivs sich in Sicherheit brachten.

Christiane Haerlin arbeitet im Lesesaal des Archivs, als es passiert. Es ist kurz vor 14 Uhr, sie schreibt auf dem Laptop an ihrem Buch über die berufliche Beratung psychisch Kranker. Das Historische Archiv nutzt sie für einige Recherchen. Das Buch ist fast fertig, in sieben Tagen ist Abgabe. Doch dann tut sich die Erde auf. „Es gab ein Rumpeln, als ob ein riesiger Klotz auf die Decke gestürzt wäre“, sagt die 66-Jährige. „Ich sah durchs Fenster einen Dachdecker über das Flachdach hinter dem Gebäude rasen.“ Dann reißt eine Mitarbeiterin aus einem benachbarten Büro die Tür auf und ruft: „Raus, raus, raus!“ Ohne Handtasche, Papiere und Computer flüchtet sie auf die Straße. Sie läuft die Severinstraße in der Kölner Südstadt hoch, und als sie es 100 Meter weit geschafft hat, schaut sie in eine gigantische Staubwolke. „Da war schon das ganze Gebäude in sich zusammengestürzt.“ Andere laufen mit Haerlin – voller Angst, einige schreien, aber es ist relativ still vor und nach dem Einsturz.

26 Mitarbeiter und acht Gäste sind zu dieser Zeit im Archiv. Sie alle können sich retten. Morgens war das Gebäude noch voll, einige Kollegen befinden sich noch in der Mittagspause. Das Glück ist, dass sich der Einsturz offenbar ankündigte. Arbeiter der U-Bahn-Baustelle sehen laut Augenzeugen zuerst, wie die Erde nachgibt. Im Archiv selbst beobachtet eine Mitarbeiterin im Erdgeschoss das Unfassbare. Zunächst ist ein Knirschen zu hören, man vermutet noch nichts Schlimmes, es finden Dacharbeiten auf dem Gebäude statt. Dann ein dunkles Grollen, ein dumpfes Krachen. „Ich bin vor der Staubwolke hergerannt“, erzählt ein Mann, er habe noch geschaut, ob er schon Staub auf seiner Jacke habe. „Es war einfach absurd, unvorstellbar, dass ein solcher Klotz, der so tief geerdet ist, einfach umfällt. Man kann nur eine Kerze aufstellen.“ Die Momente nach dem Einsturz erinnern einige an den 11. September. Eine Frau erzählt: „Es war wie in Zeitlupe“, erzählt eine Frau. „Wie im Kino. Schlechtes Kino.“

Polizei und Feuerwehr sind gegen 14 Uhr 15 an der Unglücksstelle. 60 Meter breit ist die Lücke, die der Einsturz gerissen hat. Der Trümmerberg reicht bis auf die andere Straßenseite, ans Friedrich- Wilhelm-Gymnasium heran. Man erkennt die zerfetzte Teerpappe des Flachdachs, zerstörte Fensterrahmen, Ziegel, Stahlträger. Eine Grabstätte für das historische Gedächtnis der Stadt. Die beiden Wohnhäuser rechts und links des Archivs sind aufgeschlitzt. Eine Satellitenschüssel ragt aus dem Dachstuhl, ein Waschbecken vor grünen Fliesen ist zu sehen, ein Bücherregal. Die Sonne scheint höhnisch in das freigelegte Innenleben der Wohnungen. Mit 85 Fahrzeugen und rund 280 Mitarbeitern ist allein die Feuerwehr rund um den Waidmarkt im Einsatz. Die Helfer bauen ein Notfalllager auf, fahren Rettungsbusse heran, um Verletzte in Krankenhäuser zu bringen. Die Busse werden nicht gebraucht, aber es gibt ein vermisstes Ehepaar. Später heißt es, auch weitere Personen aus einer benachbarten Spielhalle seien verschwunden. Am Abend gelten noch drei Personen als vermisst. Am späten Abend sagt Stadtdirektor Guido Kahlen vorsichtig: „Wir haben bis jetzt viel Glück gehabt.“

Bei Ina Küster kommt das erst schrittweise an. 30 Meter ist sie von der Unglücksstelle entfernt, als das Stadtarchiv einstürzt: „Die Leute haben gar nicht verstanden, was da passiert ist“, sagt sie. Erst nach und nach seien die Menschen weggerannt. „Einige haben angefangen zu weinen.“ Küster selbst redet seltsam gefasst über die Katastrophe. „Ich war auf dem Weg zur Arbeit", sagt die WDR-Journalistin, „mit meinen Gedanken war ich bei einem Beitrag“. Sie freue sich einfach, „dass ich ein paar Meter weiter weg war“.

Die Polizei sperrt das Gebiet immer weiträumiger ab. Es besteht Einsturzgefahr auch für das ehemalige Polizeipräsidium. Aus der ganzen Umgebung werden Betonmischer angefordert, um das gigantische Vakuum, das sich offenbar immer noch unter der Straße befindet, zu füllen. In einer langen Reihe fahren sie an die Unglücksstelle heran. Rund 1000 Kubikmeter Beton, heißt es, müssen in die Unglücksstelle gepumpt werden.

Ein junges Pärchen dreht an der Polizeiabsperrung vor dem Hotel um. „Wir wohnen direkt neben dem Archiv“, sagte der junge Mann. Er hält die Hand seiner Begleiterin fest umschlossen. Sie hat Tränen in den Augen. (KR)

Jens Meifert, Manfred Reinnardt[Köln]

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