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Panorama: Eis am Flügel

Die US-Transportbehörde warnt Piloten vor einem unterschätzten Phänomen

Berlin - Nach einem Flugzeugunglück in den USA hat die amerikanische Transportsicherheitsbehörde NTSB in einem Alarm-Rundschreiben alle Piloten vor einem bisher unterschätzten Phänomen der Vereisung gewarnt. Bereits geringste, für das menschliche Auge unsichtbare Eisanhaftungen von der Größe eines Salzkornes pro Quadratzentimeter können einen katastrophalen Auftriebsverlust bewirken, warnte die Behörde. Die hier bei vielen Besatzungen bisher zu beobachtende Sorglosigkeit habe zu einer unverhältnismäßig hohen Zahl von Startunfällen geführt. Bei deutschen Airlines sei man sich des Problems bewusst, betonte die Pilotenvereinigung Cockpit.

Am 28. November hatte in Montrose (US-Bundesstaat Colorado) ein zweistrahliger Challenger-Jet beim Start keine Höhe gewonnen, sondern war in den Flughafenzaun gerast und in Flammen aufgegangen. An Bord der gecharterten Maschine befand sich die Familie von Dick Ebersol, als Sportchef des TV-Senders NBC in den USA eine Fernsehpersönlichkeit. In den Trümmern starben sein 14-jähriger Sohn Teddy, der Pilot und der Flugbegleiter. Der Copilot wurde lebensgefährlich verletzt, der ältere Sohn Charles und Ebersol selbst schwer. Seine Ehefrau – die Schauspielerin Susan Saint James – entging dem Unglück, weil sie nicht mit zurück nach South Bend (Indiana) fliegen wollte.

Laut NTSB besteht der Verdacht, dass Eisbildung an der Oberseite der Tragflächen die Katastrophe verursacht hat. Eis- und Schneeanhaftungen an Tragflächen und Leitwerken können die Luftströmung und damit den Auftrieb empfindlich beeinträchtigen. Deshalb werden Flugzeuge bei entsprechenden Witterungsbedingungen vor dem Start durch Aufsprühen einer Spezialflüssigkeit enteist. Das umweltverträgliche Glykol-Wasser-Gemisch hat die Eigenschaft, vorübergehend haften zu bleiben und so eine erneute Eisbildung zu verhindern. Bei extremen Witterungsbedingungen beträgt die Wirkungsdauer nur wenige Minuten. Durch die Beschleunigung beim Start verflüssigt sich das Enteisungsmittel wieder und läuft von der Maschine ab, um nicht selber die Aerodynamik zu stören.

Bisher seien Piloten meist davon ausgegangen, dass nur sichtbare Eisanhaftungen eine Gefahr darstellen, so das NTSB. Tatsächlich hätten aber Tests im Windtunnel ergeben, dass bereits den Auftrieb um bis zu einem Drittel reduzieren können. Gerade beim hohen Anstellwinkel während des Starts lasse sich dann ein fataler Abriss der Luftströmung auch durch stärkere Triebwerksleistung nicht verhindern.

Besonders das gefürchtete Klareis ist auf Distanz oft schwer auszumachen. Viele Piloten glauben, dass die Tragfläche frei ist, wenn sie aus dem Flugzeugfenster kein Eis sehen können, so die amerikanischen Unfallexperten. Dabei seien geringfügige, nicht sichtbare Anhaftungen ebenso gefährlich wie eine erkennbare Eisbildung. „Ein wenig Eis gibt es aus aerodynamischen Gesichtspunkten nicht“, warnen die Fachleute. Die einzige sichere Kontrolle sei im Zweifelsfall das Befühlen der Tragfläche.

„Mit Icing ist nicht zu spaßen“, sagte auch ein Sprecher der Braunschweiger Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung dem Tagesspiegel. Im Zweifelsfall müsse der Pilot auf die Tragfläche fassen und fühlen. Auch in einem Trainingsfilm des Flugzeugherstellers Boeing werde empfohlen, sich nicht aus den visuellen Eindruck zu verlassen. Das Argument der hohen Flügel bei den größeren Verkehrsjets lässt der Experte nicht gelten. „Dann muss man unter Umständen eine Leiter bemühen.“

Bei den deutschen Fluggesellschaften gibt es klare Richtlinien, die weitgehend identisch sind, sagte Markus Kirschneck von der Pilotenvereinigung Cockpit. Danach gilt die rein optische Inspektion als nicht ausreichend. Da viele Teile manuell nur schwer erreichbar sind, werde bei bestimmten Witterungsbedingungen grundsätzlich enteist. Die glimpfliche Notlandung einer mit 28 Passagieren besetzten Fokker 70 der Austrian Airlines im Januar auf einem Acker bei München habe die Crews noch einmal besonders sensibilisiert. Als Ursache für den Ausfall beider Triebwerke des Jets gilt ebenfalls Vereisung. „Bei uns wird sehr großzügig enteist“, betonte Lufthansa-Sprecherin Renate Hocke.

„Jeder Pilot ist darauf bedacht, dass die Flächen frei sind“, sagte Flugkapitän Thomas Kärger vom Piloten-Controller-Club Berlin. In unklaren Fällen lasse sich der Bodentechniker eine Hebebühne kommen und fasse nach. Die NTSB-Warnung werde die Sensibilität steigern, aber nicht zu gravierenden Änderungen der gängigen Verfahren führen. Allerdings sei es erforderlich, dass alle Airlines die gleiche Vorsicht walten lassen. Gerade beim starken Kostenbewusstsein mancher Billigflieger sei zu befürchten, dass man dort in Grenzfällen vor den hohen Enteisungskosten zurückschrecke.

Rainer W. During

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