zum Hauptinhalt

Elbe-Hochwasser 2013: Zwei Mal überschwemmt, das reicht jetzt

Die Bewohner von Seydewitz fühlen sich verraten. Zwei Mal hat die Elbe ihr Dorf überschwemmt, spülte ihnen Gülle, Dreck und Öl in die Stuben. Auf einen höheren Deich warten sie bis heute. Nun gibt es für sie nur noch eines: Bloß weg!

Skalli und Maxi, die beiden Mischlingshunde, spürten die nahende Katastrophe zuerst. Als die Tiere nur noch fiepten und Rolf Härtner nicht mehr von der Seite wichen, wusste er, dass es Zeit war zu fliehen. Da schwappte die Elbe bei Torgau gerade über den Deich, und den Härtners blieben noch 20 Minuten, um sich vor den Fluten in Sicherheit zu bringen. Zusammen mit den anderen Einwohnern des kleinen Dorfes Seydewitz, rund zwei Autostunden von Berlin entfernt.

Das Wasser ist weg, doch Seydewitz bleibt verwaist. Die meisten Nachbarn kommen nur noch zum Arbeiten her, zum Aufräumen und Retten, was noch zu retten ist. Wenn Rolf Härtner sein Haus betritt, hebt er erst einmal seinen Unterarm vor Nase und Mund. Im Wohnzimmer verschlägt es einem den Atem. Ein ätzender Geruch liegt in der Luft, er scheint sich in die Wände, die Tapeten, Paneele, den Fußboden und die ruinierten Einbaumöbel hineingefressen zu haben. Die Fenster und Türen sind weit geöffnet, es hilft nichts. „Das ist die Gülle von den Feldern“, sagt Härtner, 66 Jahre alt. Als wäre das Wasser allein nicht schon schlimm genug gewesen, hat der Fluss alles in die Häuser gespült, was nicht niet- und nagelfest war. Holz, Sand, Abfall – und auch Öl. „Im Nachbarhaus hat das Wasser das Ventil eines Tanks gebrochen. Das Zeug schwamm überall hin.“

Bloß raus. Härtner hält sich wieder die Nase zu und flüchtet zurück auf den Hof, wo ihn Skalli und Maxi verhalten begrüßen. Die Hunde scheinen die Verzweiflung der Menschen zu spüren. Sie winseln nicht, wagen sich nicht von ihrer Decke und heben nur leicht den Kopf. Ihr Herrchen seufzt. „Lange hält das hier keiner aus. Hier ist nicht mehr viel zu retten.“

Als vor rund zwei Wochen das Wasser kam, stiegen Härtner und seine Frau Edith ins Auto und fuhren mit anderen Dorfbewohnern im Konvoi in ein früheres Kinderferienlager auf einer Anhöhe über dem Nachbardorf. Dort leben bis heute 17 der insgesamt 55 Einwohner des Dorfes „mehr schlecht als recht“. An eine schnelle Rückkehr nach Seydewitz denkt niemand, denn da funktioniert noch nicht einmal der Strom. Härtner trägt einen Sechstagebart.

Seydewitz droht ein Geisterdorf zu werden. Die Mehrheit der Einwohner will aufgeben, sich weit weg von Deich und Elbe eine neue Existenz aufbauen. „Zwei Jahrhundertwasser in elf Jahren hält niemand aus“, sagt Härtner. „Uns hilft doch sowieso niemand.“ Nur ein paar Landwirte im leicht erhöht liegenden Dorfteil wollten trotzdem bleiben.

Sie übernahmen das Haus der Eltern kurz vor dem ersten Hochwasser 2002

Seit 1998 wohnen die Härtners in Seydewitz, Hausnummer 25, hinter dem Ortseingangsschild. Edith Härtner, 64 Jahre alt, lässt sich kaum blicken, sie räumt, kehrt, schrubbt und wirft ihrem Mann nur ab und zu einen ernsten Blick zu. Arbeiten soll er, nicht so viel reden, lautet wohl die Botschaft. Die reinste Therapie, sagt der Ehemann. „Arbeit ist für sie und auch für mich die beste Abwechslung.“ Das böse Erwachen komme erst noch, wenn sie das ganze Ausmaß der Verwüstung realisierten, „auch bei mir“.

Kurz vor dem ersten Hochwasser 2002 hatte Härtner gerade das mehr als 100 Jahre alte Haus der Schwiegereltern nach den eigenen Wünschen hergerichtet und sich selbstständig gemacht. Der gelernte Klempner eröffnete einen Reparaturservice rund um Haus und Hof, alles lief erfreulich an – bis die Elbe im August erstmals über den rund 500 Meter vom Haus entfernten Deich schwappte und Seydewitz komplett unter Wasser setzte. Es kostete die Bewohner viele Entbehrungen, viel Mühe und Kraft, doch das Dorf konnte sich nach einigen Jahren wieder sehen lassen.

Damals und heute – die Bilder gleichen sich bis ins Detail. Zuerst lief der kleine Bach Dahle am Dorfrand über, weil er nicht mehr in die übervolle Elbe münden konnte, bald reichte die Höhe der Deiche am großen Strom nicht aus. Diesmal brach sogar zusätzlich noch der Deich im benachbarten und etwas südlich gelegenen Außig, so dass die Fluten gleich von zwei Seiten das Dorf in die Zange nahmen. Auch damals fanden viele Familien Unterkunft im Kinderferienlager. Genau wie heute ließ sich die Politikprominenz in den Flutgebieten filmen und fotografieren. Rolf Härtner richtete im August 2002 seine Videokamera auf den zwischen Trümmerbergen die Dorfstraße entlanglaufenden sächsischen Ministerpräsidenten Georg Milbradt (CDU), der erst wenige Monate zuvor das Amt von Kurt Biedenkopf übernommen hatte. Mildbradt versprach mit fester Stimme einen neuen Deich für das Dorf, so eine Katastrophe dürfe sich nicht wiederholen.

Härtners Lachen klingt bitter. Er könne sich deshalb so genau erinnern, „weil wir im Jahre 2006 schon wieder abzusaufen drohten“. Als die Bewohner die Behörden zur Eile drängten, habe die Politik immer wieder abgewiegelt. Es fehle das Geld und überhaupt: ein „Jahrhunderthochwasser“, das komme so schnell nicht wieder. In Seydewitz und den anderen Dörfern der Region fühlen sie sich verraten. Das wenige Geld, so wird überall erzählt, habe nur für die neuen Deiche vor dem wirtschaftlich so wichtigen Flachglaswerk in Torgau gereicht.

Fegen, schippen, schöpfen, damit vergehen die Tage der Dorfbewohner. Rolf Härtner macht Pause, legt kurz den Besen aus der Hand und schaut in seinen Gummistiefeln zufrieden über den Hof. „Das sieht ja schon wieder ganz passabel aus.“ Zwei frühere Arbeitskollegen aus Riesa hätten einen halben Vormittag mit angepackt. Die vielen freiwilligen Helfer, die sich Tage oder gar Urlaub für ihren selbstlosen Einsatz am Sandsack nahmen, sucht man in den kleinen Orten meist vergeblich. Hier bleiben Familien, Freunde und Nachbarn auf sich selbst angewiesen. Sohn und Tochter der Härtners sind, wie die meisten jungen Leute aus den ostdeutschen Dörfern, weggezogen, leben in Köln und Saarbrücken. Vergangenes Wochenende sind sie angereist, um den Eltern im Haus zu helfen. Es gibt viel zu tun: Der ganze Putz muss von den Wänden geschlagen werden. Im Keller steht noch das Wasser, das Materiallager für den Reparaturdienst haben sie vor der Flut nach oben in die frühere Scheune geschafft. „Ich will ja meine kleine Firma wieder aufbauen“, sagt Härtner. Die Rente reiche „hinten und vorne nicht“, und noch sei offen, ob das Haus gerettet werden könne. Der Statiker hat in seiner ersten Analyse mehrere Risse in den Wänden festgestellt.

Er hatte oft Besuch von Vertretern der Versicherungen, blieb aber unbeirrt

Plötzlich hält auf der Straße ein Auto, zwei junge Frauen steigen aus. „Kaffee und Kuchen gefällig?“, fragen sie, stehen im nächsten Augenblick schon auf dem Hof, stellen eine Thermoskanne und eine Tüte mit selbstgebackenem Kuchen auf den Tisch. Die Härtners staunen erst stumm, dann lächeln sie breit. Ihren letzten heißen Kaffee haben sie vor Tagen getrunken, Strom, Geschirr oder gar Kaffeepulver hat ihnen die Elbe genommen, und in der Notunterkunft im Kinderferienlager läuft nur ein Notstromaggregat. Rolf Härtner greift zum Stift, er will die Namen und die Telefonnummern der Helfer notieren, damit er ihnen die Kanne zurückbringen kann. „Wir kommen ja wieder“, ruft eine der beiden Frauen zum Abschied. Dann sind sie auch schon nebenan bei den Nachbarn mit neuem Kaffee und Kuchen verschwunden.

Die Flut hat alle Seydewitzer hart getroffen, in jedem Haus stand das Wasser den Bewohnern bis zur Hüfte, in manchen Zimmern sogar bis zum Scheitel. Die Not hat die Menschen zusammengeschweißt. Aber es gibt Zwischentöne, zuweilen klingen sie nach Neid oder Missgunst. „Bist du versichert?“, fragen sich die Nachbarn und wissen: Vor allem die Alteingesessenen können derzeit ruhiger schlafen. „Die alte DDR-Hausratversicherung hat doch die Allianz nach der Wende übernommen. Da steckt die jetzt so wichtige Elementarversicherung schon mit drin.“

Für die Versicherungen wird das zweite Jahrhunderthochwasser eine teure Angelegenheit. Schon nach der ersten Flut, sagt Härtner, hätten ihn unterschiedliche Vertreter dutzende Male besucht, um ihn von der Kündigung der für ihn so günstigen Versicherung überzeugen zu wollen. Doch er widerstand allen Versprechungen mit neuen Angeboten, „zum Glück“. Die Jüngeren sind meist gar nicht versichert, da Seydewitz zur höchsten Risikogruppe für die Versicherten gehört und kein Unternehmen das Risiko tragen will. Sie müssen all ihre Hoffnung nun auf die Spenden und staatlichen Hilfen setzen.

Die Bundeswehr ist schon lange weg, nun bereisen Seelsorger die Elberegion. „Wir hören vor allem zu“, erzählt Anja Wicher von der Diakonie. „Manche Familien haben ihre ganze Existenz verloren, nach 2002 nun schon das zweite Mal.“ Mitunter werde dann dieses Ereignis als persönlicher Schicksalsschlag und sogar Strafe empfunden.

Bei Rolf Härtner und anderen Seydewitzern stießen die beiden Notfallseelsorger, die im Ferienlager ihre Hilfe angeboten hatten, auf wenig Resonanz. Vielleicht weil die meisten mit ihrem Dorf ohnehin schon abgeschlossen haben. „Das Geld für den Wiederaufbau kann man sich sparen“, sagt Härtner. Sollten er und seine Frau von den Entschädigungszahlungen ausreichend profitieren, wollten sie „irgendwo“ noch einmal neu anfangen. Und Seydewitz? „Kann als Überflutungsfläche dienen, um der Elbe mehr Raum zu bieten.“

Im Rathaus der Stadt Belgern-Schildau erwartet man die Dorfbewohner in drei Wochen zu einem runden Tisch. Doch Seydewitz reagiert gereizt auf die Einladung von Bürgermeisterin Eike Petzold. Das sei doch alles viel zu spät, sagt beispielsweise Rolf Härtner. „Wir wollen jetzt Klarheit und schnell weg aus dieser gefährlichen Gegend.“ Er hat es zwei Mal durchgemacht und braucht keinen weiteren Beweis. Das Wasser richtet sich nach dem Wetter, nicht nach der Deichhöhe.

Der Text ist auf der Reportage-Seite erschienen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false