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Panorama: Ende des Kaufrauschs

Viele Türken können ihre Kreditkartenschulden nicht bezahlen – die Regierung zieht die Notbremse.

Istanbul - Als Tugrul Bayir kürzlich mit einer Bombenattrappe vor dem Ministerpräsidentenamt in Ankara auftauchte, glaubte die Polizei zunächst, sie habe es mit einem Selbstmordattentäter zu tun. Doch Bayir wollte sich nicht in die Luft sprengen – er wollte Hilfe, weil er sein Kreditkartenkonto um 13 000 Euro überzogen hatte. So wie Bayir geht es vielen Türken. Allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres sahen sich 1,7 Millionen Kreditkarteninhaber im Land außerstande, ihre Schulden zu bezahlen; das ist sechs Mal so viel wie im gesamten Jahr 2009.

Nun rächt sich, dass der Konsumrausch der vergangenen Jahre vor allem auf Pump ablief. Türken können Kleinkredite innerhalb von Minuten am Bankautomaten erhalten, Ratenzahlungen beim Kauf von Autos oder Spülmaschinen verführen ebenfalls zum spontanen Einkauf. Nun zieht die Regierung die Notbremse: Ratenzahlungen werden begrenzt. Kritiker sagen, die Maßnahmen kommen zu spät.

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ist besorgt. Vor wenigen Tagen rief er seine Landsleute auf, bei Anschaffungen auf Kreditkarte vorsichtig zu sein. Verbraucher sollten nicht mehr Geld ausgeben als sie hätten, warnte der Regierungschef. Wenn wegen nicht geleisteter Rückzahlungen eine Zwangsvollstreckung angeordnet werde, dann „nehmen sie euch alles weg“.

Insgesamt belaufen sich die Schulden auf den rund 57 Millionen Kreditkarten in der Türkei auf etwa 32 Milliarden Euro. Dazu kommen zehn weitere Milliarden Euro an Bankkrediten, die Konsumenten nicht zurückzahlen können. Die Opposition in Ankara sagt, zwei Millionen Türken hätten bereits Besuch vom Gerichtsvollzieher bekommen.

Das ist das Ergebnis eines Kaufrausches, der mit dem türkischen Wirtschaftswunder vor zehn Jahren begann. In diesem Zeitraum hat sich das Volumen der türkischen Volkswirtschaft auf heute rund 614 Milliarden Euro verdreifacht. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ist eine Mittelschicht entstanden, die genug Geld zur Verfügung hat, um sich Autos, Wohnungen und Küchengeräte zuzulegen – und die dies auch im großen Maßstab tut.

Unterstützt wurde der nationale Einkaufstrip nicht nur durch kräftige Wachstumsraten der Wirtschaft, sondern auch durch billige Kredite der Banken und überall erhältliche Kreditkarten. Doch das kann nicht ewig so weitergehen, wie die steigenden Kreditkartenschulden zeigen. Das Wachstum bei den Verbraucherkrediten sei nicht mehr tragbar, sagte Finanzminister Mehmet Simsek kürzlich. Die Bankenaufsicht stellte neue Regelungen vor, die Ratenzahlungen begrenzen und die Türken zwingen sollen, bei größeren Anschaffungen ans Ersparte zu gehen. Die Neuregelung sieht unter anderem vor, dass Autokäufer in Zukunft mindestens 30 Prozent der Kaufsumme aus Eigenmitteln auf den Tisch legen müssen. Thomas Seibert

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