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Die Themse sucht sich neue Wege. Eine überflutete Landstraße bei Egham westlich von London. In der Fotostrecke sehen Sie die Bilder des Unwetters.

© AFP

Update

England unter Wasser: Tote und Verletzte bei Extremwetter in Großbritannien

Seit zwei Monaten wird England von Sturm und Regen heimgesucht – immer mehr Leute geben in ihrer Verzweiflung der Regierung die Schuld. Nun starben mindestens drei Menschen in Folge des Unwetters.

Die heftigen Winterstürme über den britischen Inseln am Freitag und in der Nacht zum Samstag haben mindestens drei Menschen das Leben gekostet. Mitten in einem belebten Viertel der Londoner Innenstadt starb eine 49-Jährige, als während des Sturms eine Mauer-Brüstung auf das Dach ihres Autos stürzte. Zwei weitere Insassen des Autos sowie ein Passant wurden dabei verletzt, teilte Scotland Yard am Samstag mit, ohne jedoch zunächst einen direkten Zusammenhang zu den Stürmen herzustellen. Auf dem Kreuzfahrtschiff Marco Polo im Ärmelkanal starb ein 85-Jähriger, nachdem eine heftige Welle das Schiff erfasst hatte. Der Mann sei unglücklich gestürzt, teilten die französischen Rettungskräfte mit. Nach britischen Berichten hatten die Wassermassen auch ein Fenster des Schiffes eingedrückt. In Irland starb am Freitag ein 19-Jähriger, als er mit seinem Auto in einen umgestürzten Baum krachte. Am Mittwoch war bereits ein etwa 70 Jahre alter Mann in England an den Folgen eines Stromschlags gestorben - er hatte versucht, einen auf eine Stromleitung gefallen Baum zu entfernen. Die heftigen Stürme über den britischen Inseln dauern seit Monaten an. Immer wieder werden ganze Landstriche und die Küsten von neuen Sturmwellen erfasst. Teile Südenglands stehen seit Wochen unter Wasser. Mindestens 5000 Häuser sind überflutet. Auch die französische Bretagne auf der anderen Seite des Ärmelkanals ist betroffen.

Stromleitungen brechen wegen des Unwetters zusammen

Täglich brechen Stromleitungen zusammen. Am Samstag waren in Großbritannien noch 11 000 Menschen ohne Strom, nachdem in der Nacht 165 000 Haushalte wieder ans Netz gegangen waren, wie der Verband der Stromversorger mitteilte. In Irland waren am Samstag noch 60 000 Haushalte ohne Elektrizität, wie die irischen Stromversorger mitteilten. Nach französischen Angaben mussten in der Bretagne 90 000 Haushalte ohne Strom auskommen. Das Sturmtief sollte nach den Vorhersagen der Meteorologen im Laufe des Samstags nordwärts ziehen und Teile Nordirlands und Schottlands erfassen. In höheren Lagen wurden auch ergiebige Schneefälle erwartet.

Das Land ist wie ein Schwamm mit Wasser vollgesaugt. Seit Wochen sind Tausende von Häusern überflutet. Auch in trockenen Gebieten tropft das Wasser von den Wänden. „Wasserfolter bis Mai“, schrieb die Zeitung „Independent“. Experten zufolge könnten 1,6 Millionen Häuser in Großbritannien in den nächsten Wochen und Monaten von steigendem Grundwasser überschwemmt werden. Kein Wunder, dass bei der „Daily Mail“ Weltkriegsstimmung aufkam: „Größte Rettungsaktion seit dem Blitz.“

Soldaten retten Menschen mit Gummibooten aus ihren Häusern und füllen Sandsäcke –kommandiert werden sie von dem in Irak- und Afghanistan erprobten General Patrick Sanders. Aber als die ersten Soldaten abkommandiert wurden, um beim Dammbau zu helfen, mussten sie wieder abziehen, weil sie keine Gummistiefel hatten. 70 Prozent aller Rettungsdienste seien jetzt mit Flutarbeiten befasst, meldet die Polizei. Auch die Prinzen William und Harry schleppten gestern Sandsäcke in Datchet. Das Dörfchen an der Themse liegt in dem riesigen See, der sich jetzt um den Hügel in Windsor ausbreitet, auf dem die Queen ihr Schloss hat. Wenn sie aus dem Fenster schaut, sieht sie Land unter Wasser. Von eiserner Weltkriegsdisziplin und der sprichwörtlichen „steifen Oberlippe“ der Engländer kann allerdings keine Rede sein. Die Nerven liegen blank. In Wraysbury wurden Mitarbeiter des Umweltamts so beschimpft, dass sie abgezogen wurden und unter Polizeischutz zurückkehrten. Zuvor war der FreiwilligenKoordinatorin Su Burrows bei einem Besuch des Verteidigungsministers der Geduldsfaden gerissen. „Wie lange müssen wir eigentlich warten, bis jemand begreift, dass wir hier Hilfe brauchen“, zischte sie den Politiker an, der in frisch gekauften Gummistiefeln vor ihr stand.

Wer ist schuld? Das fragen viele in England

Premier David Cameron sagte eine Nahostreise ab. Wenn er nicht in der Downing Street den Krisenstab kommandiert, fliegt er mit dem Hubschrauber herum und zeigt sich möglichst oft in Gummistiefeln und Fleecejacke. „Geld ist kein Hindernis, wir sind ein reiches Land und können jedem helfen“, behauptete er, als er merkte, dass sich die Fluten zu einer politischen Krise ausweiteten. Aber es war zu spät. Fernsehteams und Medien, denen nach wochenlanger Flutberichterstattung nichts mehr einfällt, müssen nur einem Flutopfer das Mikrofon vor die Nase halten und fragen, „Wer ist schuld?“.

Wie das Wasser dringt auch die Schulddebatte in alle Ritzen. Schuld ist das Umweltamt, weil es zu viel für Vogelschutzgebiete und zu wenig für Wasserschutz ausgegeben hat. Schuld heißt, dass die Abwasserkanäle nicht genügend ausgebaggert wurden und das Wasser nicht abfließt. Schuld heißt aber auch, dass zu viel ausgebaggert wurde und das Wasser zu schnell abfließt und tiefer liegende Gebiete überspült. Schuld ist die Regierung, weil sie zu viel Geld für Entwicklungshilfe ausgibt und zu wenig fürs eigene Land. Schuld ist die EU, weil sie ausgebaggerten Schlamm als Industrieabfall deklariert und seine Entsorgung zu teuer macht. Schuld heißt aber auch, dass aus Platzmangel immer mehr Häuser in Überschwemmungsgebieten gebaut werden und jeder, vor allem am Oberlauf der schönen Themse, so nah wie möglich am Wasser wohnen will.

Und natürlich der Klimawandel. „Diese Fluten sind Teil eines Trends, nicht nur in Großbritannien“, schrieb der Umwelt-Ökonom Nicholas Stern im „Guardian“. Jetzt forderte er neue umweltpolitische Anstrengungen, um Massenmigration, Konflikte und Kriege zu verhindern. Andere dagegen fordern, endlich mit Infrastrukturinvestitionen zur Schadenseindämmung zu beginnen. Die einen wollen, dass mehr Dämme gebaut werden. Die anderen wollen weniger Dämme.

Politiker waten derweil weiter mit Gummistiefeln durch das Wasser. Premierminister Cameron warnte, die Fluten würden nicht ohne Folgen für die Wirtschaft bleiben – und dachte dabei wohl auch an die kommenden Wahlen.

Im Flutgebiet sind sie ratlos. „Wir würden eure Häuser ja auspumpen“, sagte Dominic Manton von der Feuerwehr in Wraysbury. „Aber wo könnten wir das Wasser hinpumpen?“

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