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Epidemie: Ehec und die Geschichte einer vergeblichen Suche

Viele Spuren, aber keine führt irgendwo hin. Der Ehec-Infektionsherd bleibt unerkannt. Erst Gurken, Tomaten, Salat - dann waren Sprossen an allem schuld. Und tags darauf: wieder Fehlalarm.

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Es zählt jede Minute. 14 Cent kostet sie den Bürger, wenn er beim Ehec-Bürgertelefon des Bundesgesundheitsministeriums anruft. Darauf weist eine weibliche Automatenstimme eingangs hin. Die Verbindung wird hergestellt.

„Guten Tag, hier spricht das Bürger-Telefon.“ Eine Dame ist dran.

Was man tun solle, wenn man vor kurzem in Norddeutschland Salat, Tomaten, Gurken und Sprossen gegessen habe?

„Erst einmal abwarten“, sagt die Dame. Die Inkubationszeit betrage zwei bis zehn Tage. Wenn sich blutiger Durchfall einstelle, solle man sich an den Hausarzt oder ein Krankenhaus wenden.

Und wie weiter? Was könne man tun, um sich gegen eine Infektion zu schützen?

Die Dame sagt, dass das Ministerium noch keine Information darüber besitze, wo der Infektionsherd des Ehec-Erregers liegt. „Und zu 80 Prozent werden diese Primärquellen auch gar nicht gefunden“, sagt die Dame. „Also erst einmal abwarten.“

Notrufnummern sind eine nützliche Erfindung. Durch sie haben Menschen mit der Sorge, was zu tun sei, immerhin einen Ansprechpartner, von dem sie ihre Fragen nicht beantwortet bekommen. Und im Fall der Ehec-Epidemie gibt es viele Fragen. Täglich werden es mehr. Wie man sich gegen die Krankheit wehren kann, die wie eine Magen-Darm-Grippe beginnt, die Nieren versagen lässt und das Gehirn angreift? Warum zunächst eine umgefallene Gurkenpalette den Verdacht auf den Hamburger Großmarkt als Infektionsherd lenkte? Wieso aus der Gurke die Sprosse wurde? Und wie kommt es, dass Ehec nun gar nicht mehr Ehec heißen soll?

Um Antworten bemüht an diesem Montag ist Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner. Im letzten Jahr war es der Dioxin-Skandal in Tierfuttermitteln, der die CSU-Politikerin plötzlich in die erste Kabinettsreihe katapultierte. Sie versprach eine Reform des Kontrollsystems für Tiernahrung. Danach wurde es wieder ruhig. Jetzt tritt sie in schwarzem Hosenanzug vor die Presse, der Raum stickig und überfüllt. In Erwartung schwieriger Fragen wird die Ministerin von zwei Experten begleitet. Es geht um den Schutz der Verbraucher, um Aufklärung, darum, den Menschen die Ängste zu nehmen.

Aber dann sagt Ilse Aigner nur, dass sie keine Entwarnung geben kann. Für die Bundesregierung, sagt Aigner im gedämpften Ton, habe die Ehec-Bekämpfung „höchste Priorität“. Nur Genaues sagen – das können auch die Experten an ihrer Seite leider noch immer nicht. Einer sagt: „Es ist ein normales Infektionsgeschehen.“

Zur Normalität der Epidemie gehört, dass das Robert-Koch-Institut täglich neue Fälle meldet. Binnen einer Woche werden 800 bestätigte Ehec-Verdachtsfälle registriert, normalerweise kommt es in Deutschland im ganzen Jahr zu knapp 900 Infektionen mit diesem Bakterientyp. 21 Menschen sind bereits gestorben, vor allem im Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf bleibt die Lage kritisch. „Wir werden weitere Menschen verlieren“, sagt Professor Jörg Debatin.

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Joachim Berger weiß von solchen Krankheitsverläufen. Aber der Gastwirt ist eine Frohnatur und lässt sich die Laune so schnell nicht verderben – auch nicht von zwei schlaflosen Nächten, nachdem Ermittler sein Lübecker Lokal auf Spuren des Ehec-Erregers durchforstet haben. Der Besitzer des Kartoffelkellers wedelt mit einem Blatt Papier. Geschickt wurde es ihm von seinem Zwischenhändler, dem Fruchthof Mölln, mit dem er „ich weiß nicht wie lange“ zusammenarbeitet. „Die warnen jetzt vor Sprossen und rufen die letzten Lieferungen zurück.“

Es ist die neue Spur. Sie hat zu einem Bio-Hof mit vielen netten Menschen in Bienenbüttel bei Uelzen geführt. Ein Dutzend Kamerateams steht vor der Einfahrt, dazu unzählige Fotografen und Journalisten. Sie kommen aus Schweden, Dänemark, England und Frankreich. Ein Hubschrauber kreist über dem Gelände. Jungen aus dem Ort bitten die Journalisten um Autogramme.

Joanna Fischer wirkt fassungslos. Es ist nicht der übliche Unglaube, der sich einstellt, wenn sich der Ursprung eines so großen Übels auf einmal in der eigenen Nachbarschaft findet. Nein, Joanna Fischer ist so entsetzt, weil sie die Menschen, die auf diesem Hof leben, so gut kennt. Vier Jahre lang hat sie selbst auf dem Hof gearbeitet. Hat Sprossen wie die, um die es nun geht, mitgezüchtet, verpackt und an besonderen Tagen abends für sich und ihre drei Kinder über den Salat gestreut. „Vielleicht ist ja doch alles ein Irrtum“, sagt sie.

Der Ort, um den es eigentlich geht, liegt zurückgesetzt, hinter dichten Büschen. Der Name des Betriebes, Gärtnerhof, steht auf einem großen Schild, in Holz geschlagen, in jener Schrift, wie man sie häufig vor Waldorfschulen sieht. Das verschlossene Tor bewachen zwei Männern eines Sicherheitsdienstes. Von den Mitarbeitern des Hofes lässt sich niemand sehen. Was man erkennt, sind niedrige Gebäude aus Stein, im Fachwerkstil erbaut, mit einem Aufsatz aus Holz, daneben zwei Gewächshäuser.

Es ist die ironische Note dieses Falles, dass ausgerechnet ein Ort unter Verdacht gerät, der rein gar nichts mit jenen Agarindustriefabriken zu tun hat, an die man sich als Ursprung von Lebensmittelskandalen aller Art schon fast gewöhnt hat. Der Gärtnerhof ist das exakte Gegenteil jener seelenlosen Massenproduktion. „Gemäß unserer biologischen Überzeugung verwenden wir natürlich keine synthetischen Düngemittel oder Spritzmittel“, schreiben die Bauern des Gärtnerhofes auf ihrer Internetseite. Von Verzicht auf tierische Dünger, Brachejahren und Dreifelderwirtschaft ist die Rede. „Die Früchte unserer Wirtschaftsweise sind unser wohlschmeckendes, gut bekömmliches und vitales Gemüse.“ So ein Satz wirkt jetzt, nach dem Tod von so vielen Menschen, unfreiwillig zynisch. Und doch: Joannna Fischer würde ihm jederzeit zustimmen, auch jetzt. Die Mutter dreier Kinder wohnt 500 Meter vom Gärtnerhof entfernt, auf der anderen Seite der Kreisstraße. Bis vor drei Jahren hat sie auf dem Gärtnerhof gearbeitet, sozusagen als Auswärtige, und das Bild, das sie von den sechs Bewohnern des Hofes zeichnet, ist das von Idealisten. „Die haben sich das geschaffen aus dem Nichts“, sagt sie. Keiner isst Fleisch, alle bemühen sich um freundlichen Umgang. „So stellt man sich bio vor“, sagt sie.

Am Nachmittag sollte sich Joanna Fischers Hoffnung dann doch noch erfüllen. Da bestätigte das zuständige niedersächsische Landesamt den Verdacht nicht. Auf über der Hälfte der Sprossenproben hat sich der Ehec-Erreger nicht gefunden. Wieder war es nur eine Spur ins Nichts. Und das Rätselraten geht weiter.

Dabei schien am 26. Mai, einem Donnerstag, gegen Mittag, bereits alles gut zu werden. Seit fast vier Wochen waren Menschen in Norddeutschland an einem rätselhaften Darminfekt erkrankt, fünf Infizierte waren gestorben, das sechste Opfer sollte einen Tag später folgen. In Windeseile sprach sich nun herum, was das Hamburger Hygieneinstitut herausgefunden haben wollte. Der Ehec-Erreger war auf spanischen Gurken festgestellt worden. In Deutschland führte diese Nachricht zu Erleichterung, in Spanien dagegen begann mit ihr der Zusammenbruch eines ganzen Industriezweigs, des Gemüseanbaus.

Aber die Folgen blieben nicht auf ferne Gemüseplantagen beschränkt. Deutsche Bäckereien teilten mit, dass sie künftig bei belegten Brötchen ganz auf Gurkenscheiben verzichten würden, Großhändler kauften keine Lieferungen mehr von diesem Gemüse, egal, woher es stammte, Bauern, die Kopfsalate angebaut hatten, schredderten ihre Ernte, bevor sie ihnen vergammelte. Zunächst wurde heftig darüber gestritten, wie es bei einem Teil der spanischen Gurkenlieferung aus Almeria und Malaga zur Verkeimung kommen konnte. War die Ladung verrutscht oder bereits in Spanien mit Ehec-verseuchtem Dünger behandelt worden? Erst am 31. Mai, fünf Tage nach der ersten Mitteilung der Hamburger Gesundheitsbehörde, muss die Hamburger Senatorin eingestehen: Die spanischen Gurken scheiden als Erregerquelle aus, die auslösende Ehec-Mutation des Typs O104:H4 wurde nicht nachgewiesen. Die Spanier verlangen Schadenersatz.

Inzwischen ist das Erbgut des Keims entziffert – und offenbart die Vorgeschichte des Erregers. Offenbar handelt es sich gar nicht um einen typischen Ehec-Keim. Der Großteil des Erbguts gehört zu einer anderen Gruppe von E.coli-Bakterien, enteroaggregativer E.coli, Eaec genannt. Diese Erreger können sich besonders gut im menschlichen Darm anheften und verursachen dort Durchfall. Dieser spezifische Eaec-Typus ist bisher nur zweimal aufgetaucht: Einmal wurde er vor einigen Jahren bei HIV-positiven Patienten in Afrika gefunden, die unter chronischem Durchfall litten. Dann tauchte er 2001 bei einem Geschwisterpaar in Köln auf.

Da hatte er bereits eine dramatische Wandlung durchlaufen und das Gen zur Produktion gefährlicher Gifte in sein Erbgut integriert. „Diese Kombination aus hervorragender Anheftung am Darmepithel und Produktion des Shiga-Toxins macht diesen Keim so ungewöhnlich und gefährlich“, sagt Lothar Beutin, Ehec-Experte am Bundesinstitut für Risikobewertung. Es könnte auch erklären, warum Ärzte bei immer mehr Hus-Patienten neurologische Komplikationen sehen.

Und etwas ist außerdem neu. Der Eaec-Keim findet sich im Gegensatz zu Ehec-Bakterien nicht im Magen-Darm-Trakt von Wiederkäuern, sondern wird vom Menschen übertragen.

Mitarbeit: Kai Kupferschmidt

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