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Panorama: Erdbeben: Graben mit bloßen Händen

Maria Antonia ist unter einer schweren Betonplatte eingeklemmt. Das Kindermädchen ist eine der Überlebenden der Erdbebenkatastrophe, die bis zum Sonntagmorgen in der Siedlung Las Colinas in den Trümmern entdeckt werden konnten.

Maria Antonia ist unter einer schweren Betonplatte eingeklemmt. Das Kindermädchen ist eine der Überlebenden der Erdbebenkatastrophe, die bis zum Sonntagmorgen in der Siedlung Las Colinas in den Trümmern entdeckt werden konnten. Verzweifelt ruft Maria Antonia nach dem ihr anvertrauten Kind - vermutlich liegt es wie hunderte andere irgendwo in der Nähe, verschüttet unter Gebäudetrümmern und zentnerschweren Erdmassen. Feuerwehrleute versuchen, die junge Frau zu beruhigen. "Sie sagt, dass sie ihre Beine nicht spüren kann", sagt einer der Retter, Jonny Ramos. Mit ihrer Hand kann Maria Antonia das Bein einer anderen Hausangestellten berühren, die tot neben ihr liegt.

Fünf Stunden brauchte das Rettungsteam, um zu der Überlebenden vorzustoßen. Inmitten der allgegenwärtigen Zerstörung ist das ein kleiner Sieg. Auf einem Hof werden die Leichen der Todesopfer gesammelt, einige von ihnen grausam verstümmelt. Las Colinas gehört zur Gemeinde Santa Tecla und liegt in der Nähe der Hauptstadt San Salvador. Vor allem Angehörige der wohlhabenden Mittelklasse leben in diesem Ortsteil.

Zu ihnen gehört auch Arturo Magana, der ohne Unterlass mit einer Schaufel im Schutt wühlt. "Ich kann nicht aufhören", sagt er. "Mein Bruder ist da unten." Zur Unterstützung der Bergungsarbeiten wurden Bulldozer gebracht, aber die Anwohner fürchten, dass dies die Überlebenden gefährdet, und ziehen es vor, mit bloßen Händen oder kleinen Schaufeln zu graben. Vielleicht ist Las Colinas der eigene Wohlstand zum Verhängnis geworden. Über viele Jahre hinweg dehnte sich die Siedlung in die Hänge der Cordillera de Balsamo aus. Wälder wurden gerodet und Bauplätze in den Berg hineingeschnitten. Das Beben hat jetzt den gelockerten Gebirgskamm in Bewegung gesetzt.

Nur 30 Sekunden bebte die Erde vor der Pazifikküste Mittelamerikas. Ausreichend, um vor allem in weiten Teilen der Sechs-Millionen-Einwohner-Republik El Salvador ein Trümmerfeld zu hinterlassen. Das Epizentrum lag im pazifischen Ozean, vor der Küste der kleinsten und am dichtesten besiedeltsten Republik Zentralamerikas entfernt. Am schwersten betroffen ist das Viertel San Tecla westlich der Hauptstadt San Salvador, wo rund 500 Häuser durch Erdrutsche begraben wurden. Rettungsmannschaften bargen in der Nacht zum Sonntag mehrere Hundert Tote, 1200 Menschen werden vermisst. Die genaue Zahl der Todesopfer war gestern Abend unklar.

San Salvadors Präsident Francisco Flores rief den Notstand aus und bat um Hilfe aus dem Ausland. Deutschland, einer der wichtigsten Handelspartner des Landes, sagte seine Unterstützung zu. Das Auswärtige Amt sei bereits dabei, den Einsatz deutscher Rettungskräfte zu koordinieren, sagte Bundesaußenminister Fischer.

Das Ausmaß der Katastrophe ist schwer abzuschätzen, der Transport von Ausrüstung und Bergungsmannschaften kompliziert. Denn in großen Teilen des Landes Strom-, Wasser und Telefonleitungen sowie Fernstrassen und Brücken wurden zerstört, die betroffenen Gebiet sind teilweise gänzlich von der Außenwelt abgeschlossen. Der Flughafen von San Salvador musste geschlossen werden, Hilfskräfte müssen über den Militärflughafen Ilopango, neun Kilometer von der Hauptstadt entfernt, eingeflogen werden. Die geographischen Bedingungen lassen die Region immer wieder Opfer von Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Hurrikanen werden. Doch das Beben vom Wochenende war mit einer Stärke bis zu 7,9 auf der Richterskala das stärkste seit über zehn Jahren. Die Erdbewegungen waren in ganz Mittelamerika von Mexiko bis Panama spürbar, doch längst nicht so stark wie in El Salvador. Guatemala beklagt mindestens zwei Todesopfer.

Die Katastrophe traf El Salvador zu einem Zeitpunkt, wo sich das Land nach vielen Jahren der innenpolitischen Unruhen und wirtschaftlicher Schwäche gerade zu stabilisieren begann.

Anne Grüttner

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