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Panorama: Erst die Entwarnung, dann der Knall

Schon seit Dezember zittert die Erde in den Abruzzen, aber der große Schlag kam unerwartet

Der Wecker zeigt genau 3 Uhr 33, als das Bett anfängt zu schwanken. Es ist, als säße man in einer großen Schiffsschaukel, wie sie auf Volksfesten üblich sind, und einer brächte sie in Schwung, ganz langsam, ganz schwer, ganz lange. Das ganze Haus wackelt und ächzt; im Treppenhaus, auf der Straße rennen die Nachbarn zusammen. Ein weiterer Stoß, ein weiterer Schreck. Dann ist für Rom alles vorbei. Doch dann wird’s hell, und aus den Abruzzen, nur 120 Kilometer östlich von Rom, kommen die ersten Fernsehbilder. Sie zeigen eine Katastrophe.

Die Abruzzen – das ist eine großartige, spröde, einsame Berggegend, der höchste Teil des italienischen Apennin, 700 bis 2900 Meter über dem Meeresspiegel. Leer ist die Landschaft, weil es die längste Zeit außer der Schafzucht keine nennenswerten Einnahmequellen gab und Hunderttausende ausgewandert sind. Auch der Tourismus hier ist spärlich. In vielen der alten, malerischen, panoramareichen Dörfer wohnt niemand mehr oder nur noch alte Leute – die jetzt, zu Beginn der Osterferien, Besuch hatten von den Jungen aus der fernen Stadt.

L’Aquila, „der Adler“, heißt die Hauptstadt der Region, und deren 73 000 Bewohner sind schon am Sonntag mit Angst ins Bett gegangen. Kurz vor Mitternacht hat die Erde gewackelt, wieder einmal, wie sie es seit Dezember tut, anfangs ganz leicht und nur für die Messgeräte wahrnehmbar, dann immer stärker und häufiger. Allein in der vergangenen Woche hat es 19 Erdstöße gegeben. Viele Aquilaner legten sich nur mehr angekleidet schlafen. Die vom Daueralarm genervten Studenten der Universität dehnten ihr Nachtleben aus und trafen sich – bei Temperaturen knapp über Null – vorsichtshalber auf offenen Plätzen der Stadt. Die ersten Schulen waren „zur Vorsicht“ geschlossen. Und auf den ruhigen Samstag reagierten die Sonntagsausgaben der Lokalzeitungen geradezu mit Sarkasmus: „Bah! Wahnsinn! Ein Tag ohne Beben!“

Bürgermeister Massimo Cialente versicherte unter Berufung auf den italienischen Zivilschutz bereits, das Schlimmste sei überstanden – doch genau dann kam der große Knall.

In den Bergen von L’Aquila, liegt das Epizentrum, in 8,8 Kilometer Tiefe, und weil das vergleichsweise nahe an der Oberfläche ist, wirkt sich das Beben umso verheerender aus. 20 Sekunden lang hat die Erde getobt. Die Seismologen messen eine Stärke von 6,3 auf der Richter-Skala, praktisch genauso viel wie 1997 im Umbrien, als neben vielem anderen auch die berühmte Franziskus-Basilika in Assisi eingestürzt ist. Diesmal trifft es nicht nur das Zentrum von L’Aquila. Dort krachen mehrstöckige Häuser zusammen, die Stahlbetonbauten der Präfektur, eines Hotels, Teile eines Studentenwohnheims mit 120 Bewohnern. Ringsum brechen 26 Dörfer förmlich in sich zusammen.

Menschen werden im Schlaf verschüttet. Das Fernsehen zeigt Betten voller herabgestürzter Steintrümmer. Wasserrohre brechen und überfluten die Straßen. Da und dort riecht es stark nach Gas. Alle stürmen zum einzigen Krankenhaus in L’Aquila, an dessen Not-Einfahrt ausgerechnet das Hinweisschild „Erste Hilfe“ weggebrochen ist. Im Spital selbst ist nurmehr ein Operationssaal brauchbar. Die medizinische Versorgung reicht nicht einmal für die Patienten selbst, verbunden wird im Freien, Schwererverletzte werden ausgeflogen. Die Wasserversorgung bricht zusammen. Im Verlauf des Vormittags wird das Spital zu 90 Prozent als „nicht verwendbar“ eingestuft.

Mit bloßen Händen graben die Studenten in den zusammengebrochenen Teilen ihres Wohnheims. Niemand weiß, wer und wie viele Kommilitonen unter den schweren Betontrümmern liegen. Einzelnen gelingt es, sich per Handy aus den Steinmassen zu melden. Niemand weiß, ob der Rest des Gebäudes hält. Und wenn die Retter innehalten, um womöglich die Rufe von Verschütteten nicht zu überhören, wird das Schweigen durchbrochen von Schluchzen und Weinen.

Dass es aussieht „wie in einem Kriegsgebiet“, sagen nahezu alle, die sich aus dem Erdbebenzentrum melden. Außerhalb von L’Aquila liegen Dorfplätze unter Schutthaufen und Staub begraben, in Häusern und Kirchen klaffen dunkle Löcher. Mit sackartigen Bahren tragen Feuerwehrleute die ersten Leichen heraus. Dahinter ein wolkenlos blauer Himmel, weiß glänzende, schneebedeckte Gipfel.

Die Bergmassive der Abruzzen sind nicht so stabil, wie sie aussehen. Im Gegenteil: Geologen stufen die oberste Erdkruste als vergleichsweise schwach ein. Zuletzt sagten sie, das sei ein Vorteil. Noch vergangene Woche holte der italienische Katastrophenschutz Experten nach L’Aquila, um die Einwohner zu beruhigen. Heute sagen die Zivilschützer, das Wann und das Wo von Beben seien nicht vorhersagbar. Dabei blieben die Abruzzen auch früher von großen Katastrophen nicht verschont. Das Beben vom Montag – offenbar ein schlagartiges Absacken riesiger Erdmassen im Untergrund – hat sich laut Fachleuten entlang zweier historisch bekannter Verwerfungszonen abgespielt: jener der Jahrhundertbeben von 1349 und von 1703. Und noch 1915 sind unweit von L’Aquila bei einem Beben 30 000 Menschen gestorben.

Wo das Fernsehen Bilder zeigt von zusammengebrochenen Häusern und Kirchen, sind das Gebäude, die nach althergebrachter Abruzzen-Art aus Bruchsteinen mit viel Mörtel mehr oder minder zusammengeklebt sind. Mit gewaltiger Bitterkeit tritt Enzo Boschi vor die Kameras, der Chef der nationalen Behörde für Geophysik und Vulkanologie. „Typisch italienisch“, sagt er: „Nach jedem Erdbeben gibt’s eine gewaltige Erregung, aber eine systematische Vorsorge gehört nicht zu unserer Kultur. Das Land lernt es gerade in seinen Erbebenzonen nicht, Häuser zu bauen, die Stöße dieser Stärke aushalten.“

Kinder sind unter den Opfern, ein russisches Mädchen etwa, das erst vor einem Monat in die Region gekommen ist – ihre dreijährige Zwillingsschwester überlebt. Junge Leute, die zum Wochenende ihre Eltern besucht haben, sterben in den Trümmern. Anderen gelingt es mit knapper Not, das Haus zu verlassen und die Großmutter danach lebend durchs Fenster zu ziehen. Ein Bergsteiger stürzt sich vor Angst aus dem dritten Stock seines Hauses und wird lebensgefährlich verletzt.

Der Zivilschutz rät dringend davon ab, ins Erdbebengebiet zu fahren. Die Autobahn nach L’Aquila ist für den normalen Verkehr gesperrt, nicht nur, weil sich der Asphalt da und dort um mehr als zehn Zentimeter gesenkt hat, sondern vor allem, weil die aus ganz Italien anrollenden Hilfslieferungen Vorrang haben. Unterwegs ist ein Feldlazarett, sind Suchtrupps mit Hunden, sind ganze Zeltstädte, wie sie in Italien nach den großen Erdbeben immer sehr effizient aufgestellt werden. Manche dieser „Provisorien“ bleiben danach, weil der Wiederaufbau regelmäßig länger dauert als versprochen und die staatlichen Mittel ausbleiben, über Jahre hinweg stehen.

Immerhin, Ministerpräsident Silvio Berlusconi war am Montag bereits vor Ort, um „zu zeigen, dass der Staat bei den Menschen ist“. Gewissheit, sagte er am Mittag, gebe es zwar nicht, „aber die Techniker sagen, dass die Erdstöße nun ihre Kraft erschöpft haben“. Eine halbe Stunde später melden Fernsehreporter den nächsten Stoß. Eines der zahlreichen leichten Nachbeben, sagen die Experten.

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