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Erwünschte Trennung: Der Mauerbau von Staßfurt

Sie stehen vor dem Supermarkt, trinken Bier und Schnaps. Manchmal wird es laut. Es gab Beschwerden. Alltägliche Szenen in Shoppingcentern. Doch im sachsen-anhaltinischen Staßfurt hat der Besitzer jetzt eine Mauer gebaut. Darf man so etwas?

Er hat dann eine Mauer bauen lassen. Aus Beton und brusthoch, zwischen dem von ihm verwalteten Reich und dem Rest der Stadt. Im September war das, 6000 Euro hat er dafür bezahlt, und seitdem steht sie da.

In seinen Augen eine Antwort auf ein Problem, eine Lösung. 20 Meter lang, bestehend aus 20 nebeneinander gestellten Bauteilen. Bauschaum quillt aus den Fugen. Eine kurze, kleine, pragmatische Klärung eines Konflikts zu vertretbaren Kosten. Oder aber, und das ist es, was er seit dem Mauerbau vornehmlich zu hören bekommt, ein Zivilisationsbruch.

An einem kalten Donnerstag trifft Klaus Ecke wie fast jede Woche einmal in Staßfurt ein, einer Kleinstadt im Norden Sachsen-Anhalts. Gegen elf Uhr vormittags schiebt sich sein schwarzes Mercedes-Coupé mit Bremer Kennzeichen in eine Lücke auf dem Parkplatz vor einer Ladenzeile. Ecke sieht: eine Filiale von Netto, eine von Tedi – „alles ab 1 Euro“ –, Kik, ein Dänisches Bettenlager, einen Chinaimbiss und einen Dönergrill und eine Bäckerei. Große Einkaufswagen werden gerollt und Kofferräume beladen.

Die Ladenzeile und der Parkplatz gehören zur Bodepark GbR, einer Bremer Firma, die solcherart Shoppingcenter baut und betreibt. Ecke ist deren Geschäftsführer und müht sich jetzt aus dem niedrigen Gefährt. Ende 60 ist er, seine Augen sind wässrig und traurig und blicken dazu auch noch ein bisschen ratlos, so als verstehe er immer noch nicht, was hier in Staßfurt seit Wochen los ist.

Da baut er der Stadt 1991, gleich nach der Wende, ein Einkaufszentrum, füllt ein Stück Ödnis in der Stadtmitte, schafft Platz für Beschäftigung, und jetzt? Was wollen die Leute, was soll die Aufregung um das bisschen Beton am Grundstücksrand, das jeder, der nicht um die Begründung des Bauwerks weiß, für eine ganz normale, vielleicht etwas solider als üblich geratene Parkplatzbegrenzung halten würde?

„Es hatte Beschwerden gegeben“, sagt Ecke. Von seinen Ladenmietern und deren Kunden. Beschwerden über Männer, deren Gewohnheit es geworden war, öffentlich Alkohol in größeren Mengen zu konsumieren, dann gelegentlich herumzupöbeln und in die Gegend zu urinieren. Und zwar hinterm Rand von Eckes Parkplatz, gegenüber vom Eingang zum Nettomarkt, gegenüber von den Imbissen.

Er habe mit den Trinkern gesprochen, sagt Ecke, habe „hej Jungs, trefft euch doch woanders“ gesagt und eine Kiste Bier in Aussicht gestellt, und als das nicht wirkte, mit der Stadtverwaltung gesprochen, dem Bürgermeister. Nichts sei passiert. Und dann sei er, Ecke, eben zur Tat geschritten. Hier seine Kunden, dort die Männer mit den Bierflaschen, dazwischen die 20 nachlässig verfugten Betonelemente. Seitdem werden in Staßfurt, der kleinen Stadt mit der kleinen Mauer, ein paar Grundfragen des menschlichen Zusammenlebens verhandelt.

Welche Art und welches Ausmaß von normabweichendem Verhalten ist ein Gemeinwesen bereit, zu ertragen? Wann ist die Grenze von echter Toleranz oder auch nur der Fähigkeit zu bloßem Wegsehen erreicht? Und weiter: Fördert fortwährende Duldsamkeit nur das Hinausschieben jener Grenze, das Aufweichen all jener Vereinbarungen, auf die sich Gesellschaften zum gedeihlichen Zusammenleben geeinigt haben – bis es schließlich und unabänderbar ungedeihlich wird? Das alles wird auch in anderen Gegenden der Welt verhandelt. In Staßfurt aber, das macht den Unterschied, hat ein Mann – Klaus Ecke – sich entschlossen, eine manifeste Antwort auf diese Fragen zu geben.

„Ich hawe ’ne Meinung, aber ich sare nischt dazu.“

Er trinkt zur Stärkung nach der Autofahrt einen Kaffee in der Bäckerei im Netto-Eingangsbereich, setzt sich damit zu zwei alten Frauen. „Näch“, sagt Ecke, „ist besser jetzt mit der Mauer.“ Ach, sagen die Frauen, das ändere doch nichts. „Aber ist trotzdem besser“, sagt er.

Dann macht er einen Rundgang zu den Mietern, ein gebeugter Mann mit kleinen Schritten und einem warmen, schwarzen Mantel. Er will hören, ob alles in Ordnung ist, ob die Heizung läuft, er fragt auch immer wieder, ob es noch Beschwerden gebe, seit die Mauer steht. Eigentlich nicht, sagen die Mitarbeiter der Filialen, aber das liege vielleicht auch an der Jahreszeit.

An diesem kalten Vormittag sind sie jenseits der Mauer erst einmal nur zu dritt. Drei ältere Männer mit Stier-Bier-Flaschen in der Hand, die sie abwechselnd mit Likörfläschchen der Marke St.-Hubertus-Tropfen zum Mund führen. Sie gehören zum friedfertigsten Teil der hiesigen Klientel, die sich im Lauf des Tages immer wieder neu zusammensetzen wird. Mal mehr, mal weniger Leute, mal stumm, mal lauter. Sporadisch und tatsächlich unangenehm immer dann, wenn sich Jungmänner unter die Alten mischen. Doch für die ist es jetzt noch zu früh.

„Ich hawe ja annem Sonntaach Jeburtstaach nähstes Jahr“, sagt einer der drei, einen Umblätterkalender für das Jahr 2013 begutachtend. Die beiden Umstehenden nicken, „siehste“, dann wenden sie sich alle dem Kalender zu und machen Pläne. „Ich komm dich im Sommer mal im Garten besuchen.“ – „Ja, musst du aber mit Fahrrad kommen.“

Ein nettes, immer wieder zerbröselndes Gespräch unter Bekannten ist das. „Seh’n wir uns nochmal bis dahin?“ – „Mal seh’n, glaub’s ja nich.“ – „Dann ruf ich dich vorher aufm Handy an.“ – „Ja, aber wir seh’n uns ja nochmal.“ – „Is jut.“

Ähnlich missverständlich äußern sie sich auch zur Mauer. „Ich hawe ’ne Meinung, aber ich sare nischt dazu.“ „Schön ist die.“ „Ich fühl’ mich nicht anjegriffen.“ „Da fehlt noch Stacheldraht.“

Es scheint, als sei die Mauer von Staßfurt ausgerechnet in ihren Köpfen noch nicht angekommen. Drei von täglich ein paar Dutzend Männern mit der Mauer vor der Nase, Netto-Kunden zumal, „150 Euro mach ich da Umsatz im Monat“, sagt einer, „für Lebensmittel, und naja, fünf, sechs am Tag für Alkohol, aber nur wenn ich mal hier bin.“ Menschen, die sich Betroffene nennen könnten, wenn Politvokabeln wie diese zu ihrem Wortschatz gehören würden. Stattdessen scheint es, dass vor allem weiter abseits Stehende in der Mauer das Eindeutige sehen. Das Grundsätzliche.

Einer von denen ist Ralf-Peter Schmidt. Er sitzt für die Linke im Stadtrat von Staßfurt, vor allem aber ist er Suchtberater von Beruf und schon deshalb klar im Kopf. Er hält die Mauer für diskriminierend. Wer seien denn die, die hier stünden, und von denen er einige aus der Tagesklinik kennt, in der er arbeitet? „Das sind Produkte der Gesellschaft“, sagt er. Die gehörten mal dazu und gehören es immer noch. Menschen, die eine Scheidung hinter sich hätten oder 80 erfolglose Bewerbungsschreiben, weißgott keine Minderheitenschicksale also, und dann, irgendwann, was passiere denn dann? „Ach, nützt doch alles nichts, ich lass mich ein bisschen gehen, denken die sich“, sagt Schmidt. Dann kommen das Stier-Bier und die Hubertus-Tropfen, das Geld ist ohnehin längst knapp, und damit sind Besuche in Kneipen ausgeschlossen, den gesellschaftlich akzeptierten Orten der Geselligkeit und des Suffs. Alle, die hier hinter der Mauer stehen, können auf Anhieb „zwei Euro 20“ sagen, den Preis für ein Bier im nächstgelegenen Lokal. Viel zu teuer.

Also den Anblick der Männer ertragen, Herr Schmidt? Weil sie dazugehören? „Nein, Angebote schaffen, Treffpunkte fürs Erste, und zwar bevor sie hier landen“, sagt Schmidt. Der Mensch an sich wolle sich nun mal mit seinesgleichen treffen, auch jener, der regelmäßig zum Jobcenter geht. Treffpunkt-Angebote, das sei, mit Verlaub und unterm Strich, gesamtgesellschaftlich gesehen dann sogar billiger als nachträgliche Ausbesserungsarbeiten. Auch billiger als diese Betonmauer hier.

Schmidt sieht die Sache also von ihrem Ausgangspunkt aus, von der Scheidung her oder dem Beginn einer Arbeitslosigkeit. Er ist zwar Reparateur von Beruf, steht also am Ende jener Kausalkette, den Blick fürs große Ganze hat er sich aber offensichtlich bewahrt. Er sagt folgerichtig auch, dass die Eigenart eines Teils der Männer hier, regelmäßig vor die Büsche zu urinieren oder dahinter in die Hocke zu gehen, selbstverständlich kaum akzeptabel ist. Aber dann müssten eben die öffentlichen Toiletten, die es in der Nähe gebe, täglich aufgeschlossen werden. Es müssten, auch hier wieder, Angebote geschaffen werden.

Doch was, wenn die sogenannte Mehrheitsgesellschaft längst keine Veranlassung mehr dafür sieht, „Angebote zu schaffen“, weil die Erfahrung sie lehrte, dass Angebote oft entweder ausgeschlagen oder bloß ausgenutzt werden? Wenn sie einen Schritt auf jene, von denen sie immer noch annimmt, dass sie sich letztendlich auch selbst helfen könnten, zugeht und schon vorhersagen kann, dass damit nur der nächste Schritt Entgegenkommen von ihr eingefordert wird?

Dann ist es möglicherweise längst zu spät. Dann stellt man eben eine Betonmauer hin. Die dann allerdings wieder neue Kosten auslöst.

Kosten an Nerven und Arbeitszeit in der Stadtverwaltung nämlich. Die Verantwortlichen dort sind mehrheitlich Gegner der Mauer, der Bauamtsleiter Wolfgang Kaufmann zum Beispiel hat sich in den vergangenen Monaten mit wenig so sehr beschäftigt wie mit der Suche nach Rechtsgrundlagen für deren Beseitigung. Sie steht auf privatem Grund, einerseits, was einen behördlich verordneten Abriss schwierig macht. Andererseits aber ist die Umgebung ein Sanierungsgebiet, es ist mit Steuergeld hergerichtet worden, was der Verwaltung wiederum eine Mitsprache bei Bautätigkeiten einräumt.

Schriftstücke, adressiert an den Bodepark-Chef Ecke, verlassen seit September Kaufmanns Büro. „Sanierungsrechtliche Verfügungen“, eine „Einladung zur Anhörung“, eine „Versagung der Genehmigung“. Von Amts wegen nötige Schritte sind das, Maximalforderungen, die einen langen und nicht zwingend aussichtsreichen Rechtsstreit nach sich ziehen könnten. Den will Kaufmann aber ohnehin nicht führen, er hofft auf einen Kompromiss. Er sitzt am Besprechungstisch seines Amtsleiterbüros und spricht von „sinnvoller Begrünung“ der Mauer. Das Angebot, die städtischen Gartenamtsangestellten einen entsprechenden Gestaltungsvorschlag erarbeiten zu lassen, habe er, Kaufmann, Ecke längst gemacht.

Was dem König nicht gelang, schafft auch die Betonmauer nicht

Umgekehrt sagt Ecke, er mache die konstruktiven Vorschläge, die dann aber an der Verwaltung abprallten oder verschleppt würden. Begrünung, ja, und vielleicht historische Gemälde auf der anderen Seite, Motive aus dem alten Staßfurt, das könnte Ecke sich auch vorstellen. Kaufmann sagt: „Historische Motive, vielleicht sogar das Stadtwappen? An einer Mauer?“ Konstruktiv findet er das nicht.

Eine irgendwie schönere Mauer jedenfalls soll kommen, die auch bei den Besichtigungstouren des Stadtführers Heinz Czerwienski nicht stört, die hier starten. Jenseits des Parkplatzes befindet sich nämlich ein neuer Park mit See und Brücke. Er wurde angelegt auf dem Boden des einstigen Stadtzentrums und ist Staßfurts größte Einmaligkeit. Die ersten Kalisalzschächte der Welt befanden sich hier, vor eineinhalb Jahrhunderten in die Tiefe getrieben, was wiederum zur Folge hatte, dass das ganze Gelände sich zu senken begann, bis es aufgegeben werden musste. Staßfurt verlor seine Mitte. Czerwienski hat sich deshalb sehr gefreut, als sich die Stadt mit dem Loch im Herzen einer sachsen-anhaltinischen Bauausstellung anempfahl und fortan zusätzliches Fördergeld für die Stadtsanierung und jenen Park hier zur Verfügung stand. Im Jahr 2010 ist alles fertig geworden, einen Architekturpreis gab es noch obendrauf, und dann das. Die Trinker. Die Mauer.

Czerwienski lebt seit Jahrzehnten hier, war einen Großteil davon in der Stadtverwaltung tätig und führt nun als Pensionär Touristen durchs historische Zentrum. Gerade ist er wieder unterwegs. 23 Stationen hat sein Rundgang, vom Park am Kalischacht an Häusern aus dem 17. Jahrhundert vorbei, an der Brücke über den See und an der Stadtmauer. Diese Mauer hätten die Staßfurter damals gebaut, als das Kalisalz Geld in die Stadt brachte und sich Überfälle häuften, erzählt Czerwienski. Dann lacht er. Staßfurt und seine Neigung, Problemen mit Mauern zu begegnen.

Wenn er herumspaziert, wird er oft angesprochen. Es geht in den Gesprächen dann auch um die Mauer am Parkplatz. „Sieht doch eher aus wie eine Spanische Wand!“, sagt eine elegante Dame, und die Probleme, die sie mit den Obdachlosen habe, die gegenüber ihrem Haus eine Ruine okkupierten, seien viel dringender, aber das kümmere ja keinen. Ein Radfahrer hält an, nickt mit dem Kopf in Richtung Mauer und sagt umstandslos „Na, so ganz kriegt ihr sie nicht weg, oder?“

Czerwienski verzieht den Mund, als wolle er lieber nicht zu denen gehören, die fordern, die Männer, die er „soziale Fälle“ nennt, sollten hier weggekriegt werden. Andererseits ärgert er sich selbst über sie. Er sieht jedoch auch, dass Angebote nötig wären. Czerwienski sagt, „dann sollen sie doch welche machen, die Linken“. Sie könnten sich ehrenamtlich um die Männer mit den Bierflaschen kümmern, so wie er sich ehrenamtlich auch um vieles kümmere, die Kalischächte, die Stadtmitte, die historische Straßenbahn und was nicht alles. Das klingt ein bisschen bitter, so als wüsste er, dass Gedanken wie dieser letztlich folgenlos bleiben würden. Als Historienkenner weiß er zudem, dass dem Grundübel, das ein uraltes ist, ohnehin nicht beizukommen ist.

Im Staßfurter Museum wird das 1718 von Preußens damaligem König erlassene „Allgemeine Edict wegen Abstellung des Voll-Sauffens und Gesundheit-Trinkens“ aufbewahrt. Trotz zuvor erlassener „nachdrücklicher Gesetze und Ordnungen, um diesem Laster zu steuren“, habe „dennoch solches alles bisher diesem verderblichen Unwesen nicht abgeholfen“. Nun kam also das Edikt, ein königlicher Befehl zur „Vermeidung unserer Ungnade“ dieses „schändliche Laster nicht weiter im Schwange gehen, sondern mehr und mehr abschaffen“ zu lassen.

Was dem König nicht gelang, schafft ganz sicher auch die Staßfurter Betonmauer nicht. Es war auch gar nicht die ihr zugrunde liegende Absicht. Die Absicht war: aus den Augen – und damit vielleicht auch aus dem Sinn. Doch nicht einmal das ist ihr gelungen. Im Gegenteil.

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