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Panorama: Es fehlen einem die Worte

Julias mutmaßlicher Mörder schweigt. Sein Anwalt sagt am ersten Prozesstag, dass er die Tat bestreitet. Trotz erdrückender Indizien

Der Angeklagte wirkt wie aufgebahrt. Zwei Sanitäter in roten Overalls schieben den Spezialrollstuhl, in dem Thorsten V. mit ausgestreckten Beinen mehr liegt als sitzt. Thorsten V. trägt eine hellgraue Kapuzenjacke und ist mit einem weißen Tuch zugedeckt. Die Kapuze hat er tief ins Gesicht gezogen, nur Mund und Kinn sind zu sehen.

Vor der Richterbank stellen die Sanitäter den Rollstuhl so ab, dass Thorsten V. mit dem Rücken zu den Zuschauerbänken sitzt. Die Kameraleute und Fotografen, mit rot-weißem Absperrband auf Abstand gehalten, haben sich kleine Trittleitern mitgebracht und beugen sich über den Angeklagten, um ihre Aufnahmen zu machen. Thorsten V. trage die Kapuzenjacke und außerdem eine Sonnenbrille auf dringenden Rat seiner Ärzte, sich vor dem Blitzlicht zu schützen, wird der Verteidiger später sagen; V.s Haut wurde bei einer Explosion zu 80 Prozent verbrannt. Den ersten Eindruck kann diese Erklärung nicht wegwischen: Dass dies auch die Inszenierung eines Toten ist. Als solle dem Publikum vorgeführt werden, dass nicht nur ein kleines Mädchen gestorben sei, sondern auch der Angeklagte.

Saal 207 des Gießener Landgerichts, Prozessauftakt im Fall Julia Hose. Thorsten V. soll das Mädchen aus dem hessischen Biebertal ermordet haben. Der Angeklagte ist laut Gutachten nur zwei bis drei Stunden am Tag verhandlungsfähig. An diesem ersten Tag wird die Verhandlung jedoch gerade einmal eine Viertelstunde dauern. Sie beginnt, als die Kamerateams den Saal verlassen müssen und eine Sanitäterin Thorsten V. Kapuze und Sonnenbrille abnimmt. Das Publikum wird von ihm dennoch nicht mehr sehen als einen dunklen Haarschopf, der sich manchmal zu einem Nicken neigt, manchmal zu einem Kopfschütteln zaghaft nach links und rechts wendet. V.s Stimme wird kein einziges Mal zu hören sein.

Regungslos sitzt Thorsten V. da, als die Anklage vorgetragen wird: V. habe sich am 29. Juni 2001 der achtjährigen Julia Hose bemächtigt, „um sich an und mit ihrem Körper durch verschiedene Manipulationen geschlechtlich zu erregen". Dazu habe er das Kind mit Handschellen gefesselt. Um die Entdeckung der Tat zu verhindern, habe V. Julia getötet, „indem er mit einem flächigen Gegenstand mindestens zwei wuchtige Schläge gegen ihren Kopf führte". V., so die Anklage weiter, habe Julias Leiche im Wald verbrannt. Um Beweise zu vernichten, habe er später einen Teppich, an dem sich Blutspuren des Opfers befanden, mit Benzin getränkt und in Brand gesetzt. Von der Verpuffung des Benzins in seinem Keller rühren V.s Verletzungen.

Auf die Frage des Vorsitzenden Richters, ob sich der Angeklagte äußern wolle, verliest Verteidiger Ramazan Schmidt eine Erklärung V.s. Nach den ersten Worten „Der Angeklagte bestreitet den Tatvorwurf" ruft es aus dem Zuschauerraum „Mörder!". Schmidt fährt fort: V. bestreite alle Anklagepunkte. „Weitere Erklärungen des Angeklagten werden bis auf Weiteres nicht erfolgen." Wenig hoffnungsvoll fragt der Richter, ob V. zu seinen persönlichen Verhältnissen und zu seinem Werdegang Angaben machen wolle. V. schüttelt den Kopf. „Tja, dann ist für heute alles getan", sagt der Richter. Noch einmal ruft es von hinten: „Kindermörder". Die Verhandlung ist geschlossen.

Oberstaatsanwalt Wolfgang Thiele ist von der Erklärung „wenig überrascht". Im Vergleich zu seinem Auftritt im Fernsehen letzte Woche habe sich V. am ersten Verhandlungstag „dezenter" dargestellt. V. hatte sich vom Hessischen Rundfunk in seinem Krankenzimmer filmen lassen – wie Verteidiger Schmidt sagt, um zu zeigen, dass sich V. noch „mitten im Heilungsprozess" befinde. Schmidt hatte dem Gericht vorgeworfen, es sei „unwürdig", den Angeklagten in seinem Zustand vorzuführen. V., sagt Schmidt nun, befürchte, dass die Öffentlichkeit ihn schon vorverurteilt habe und dass das Gericht nur noch die öffentliche Meinung vollstrecke. Sprechen, um den Verdacht zu entkräften, will er dennoch nicht.

Die Beweislage gegen V. ist erdrückend. Es gibt Blutspuren des toten Kindes in seinem Haus, ein Radarfoto, das V. nicht weit vom Leichenfundort zeigt, und DNS-Spuren von V. an einem Paar Latexhandschuhe, das in der Nähe der Leiche lag. Dennoch sieht der Verteidiger die Lage seines Mandanten keineswegs aussichtslos. Für eine Sexualstraftat etwa, sagt Schmidt, gebe es „keinerlei Beweise". Das ist insofern richtig, als an der verbrannten Kinderleiche keine Spuren einer Sexualstraftat mehr nachgewiesen werden konnten. Julias Eltern, Nebenkläger in dem Verfahren, sind nicht zum ersten Prozesstag gekommen. „Dieser Rummel ist nicht geeignet, ihren Seelenfrieden zu sichern", sagt ihr Anwalt Dietmar Kleiner. Die Erklärung V.s hält er für „albern", schließlich habe V.s Verteidiger ein Jahr lang mit keinem Wort den dringenden Tatverdacht bestritten.

Tanja Stelzer[Giessen]

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