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Ein Drei-Stufen-Sauerteig muss bis zu 36 Stunden in warmer Atmosphäre gehen, damit er sein Aroma optimal entfalten kann.

© StockFood

Aufs Tempo drücken - beim Essen und Trinken wirkt das kontraproduktiv: Immer schön langsam

Einfach mal abhängen: Schinken, Brot, Wein oder Sonntagsbraten – kommt Zeit, kommt Qualität.

Auf der Suche nach Qualität und authentischem Genuss werden wir auf fast penetrante Weise immer wieder von derselben Thematik eingeholt: der Zeit. Nicht die Dampfmaschine, sondern die Uhr ist zum Schlüssel des Industriezeitalters geworden, hat Lewis Mumford erkannt. Das gilt erst recht für die Produktion und Zubereitung von Nahrungsmitteln. Bereits ein einfaches Schinkenbrot atmet auf vielfache Weise das Aroma der Zeit. Ist das Brot gut, muss der Bäcker ein richtiger Bäcker sein. Der muss aber vielleicht schon um 3 Uhr morgens aufstehen. Er schiebt keine Teiglinge in den Ofen, sondern setzt den Sauerteig an, lässt ihn ruhen, reifen, gehen, fermentieren, bringt Vorteige in Stellung. Die „Hofpfisterei“ gönnt ihrem Drei-Stufen-Sauerteig bis zu 36 Stunden. Dabei sorgen Milchsäurebakterien und Hefepilze in einem komplexen Zusammenspiel für Aromen, Triebkraft und Teiglockerung. Gärgase entstehen und bilden später feine Poren. Sauerteige verbessern Verdaulichkeit, Geschmack und Haltbarkeit, wenn sie bei leicht warmen Temperaturen genügend Zeit zur Entwicklung bekommen. Solche „langsamen“ Brote erreichen nach dem Verkauf womöglich erst am zweiten Tag ihren geschmacklichen Gipfel, wenn die Massenware längst gammelt.

Zwölf Monate reift der gute Schinken

Beim Schinken ist der Zeitfaktor noch entscheidender: Ein Spitzenschinken kann in Ausnahmefällen bis zu 24 Monate reifen. Eine Reifezeit von zwölf Monaten ist in vielen Regionen, die für ihre Schinkenkultur berühmt sind – Parma, Bayonne, Jamon Iberico – Standard. Dabei vollziehen sich biochemische und enzymatische Prozesse, die für Geschmack, Aromen und Bekömmlichkeit des Schinkens sorgen. Die Industrie versucht mit ausgeklügelten Methoden zwar immer wieder, der Zeit ein Schnippchen zu schlagen, sie mit Starterkulturen, Rauchduschen und Schnellreifekammern zu überholen. Doch die Qualität eines renitent langsam gereiften Schinkens ist einmalig.

Zeit ist bei vielen Lebensmitteln zum Taktgeber des Guten geworden, zu einem beinahe allgegenwärtigen Qualitätsfaktor. So braucht gutes Rindfleisch nach der Leichenstarre unbedingt die Zeit des Abhängens, während derer sich durch langsame enzymatische Prozesse erst jene Zartheit herstellt, die ein Rumpsteak von der Schuhsohle unterscheidet.

Zähes Fleisch wird zart

Bei Kalbfleisch gelten sieben Tage als Minimum, beim Rind mindestens zwei Wochen. Vom Zustand massiver Zähigkeit geht es über viele Tage langsam zur höchsten Zartheit über. Reifung ist ein intrazellulärer Vorgang, bei dem zunächst die Struktur der Muskelzellen durch bestimmte Enzyme verändert wird. Aber erst bei langer Reifung verändert sich auch das zähe Bindegewebe.

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Umgekehrt ist es bei der Wurstproduktion aus Schweinefleisch. Das typische Hausmacher-Aroma, das uns früher bei eigener Schlachtung die Nasenflügel beben ließ, ist nur dann erreichbar, wenn das Schwein schlachtwarm verarbeitet wird. Metzger, die nicht mehr selber schlachten – das ist heute der weitaus größte Teil, denn Schlachten gehört nicht mehr zur Ausbildung –, können, wenn sie ihre Schweinehälften vom Schlachthof holen, das Aroma der Warmfleischverarbeitung auch mit besten Zutaten und raffiniertester Würzung nicht erreichen. Vorbei!

Balsamico besteht fast nur aus Zeit

Guter Rotwein muss reifen.
Guter Rotwein muss reifen.

© Rolf Haid/ dpa

Viele Produkte leben geradezu von der Zeit, ihr Image und Preis sind untrennbar mit dem Zeitfaktor verknüpft. Die Qualitätsstufen von Cognac, Brandy, Whiskey oder Armagnac richten sich nach den Jahren der Reifung. Sie kokettieren mit Jahrzehnten auf ihrem Buckel, der Methusalem ist der Star. Echter traditioneller Balsamico, das Vorzeigeprodukt der Emilia Romagna, ist ein Essig, der fast nur aus Zeit besteht. Über Jahre verdunstet er in immer kleineren Fässern, bis er, zu dicker Tinte geronnen, als Konzentrat tröpfchenweise verwendet wird. Der rotbraune Allerweltsessig ist die Karikatur eines Balsamico, ein rapide zurechtgemixtes, mit Zuckercouleur gefärbtes Surrogat, das vom Image des Originals lebt, aber das Gegenteil repräsentiert.

Beim Wein ist die Alterung ein fest mit dem Produkt verbundener Mythos. Mit Jahren der Reife im Keller verändern sich Farbe, Duft und Geschmack. Ein alter Wein, der, noch mit Spinnweben und Staub behaftet, aus der Schatzkammer hervorgeholt wird, gilt als Inbegriff der Weinkultur. Connaisseure rollen mit den Augen und berichten von legendären Jahrgängen. Nur: Wer lässt tatsächlich noch seine Flaschen über viele Jahre reifen? Der Mythos des alten Weins ist zwar bei jedem Schluck virtuell anwesend, doch die übergroße Masse der Verbraucher konsumiert junge Weine, die mit ihren Primäraromen für frühzeitigen Verbrauch gemacht sind.

Edelsüße Rieslinge können 100 Jahre alt werden

Selbst im Bordeaux, das für langlebige Tropfen berühmt ist, werden die Weine heute für schnelleren Genuss zurechtgemacht. Manch imageträchtiges Gewächs lässt nach zehn Jahren die Flügel hängen, wirkt müde und ausgezehrt. Die legendären Langläufer sind eher die Ausnahme. Große edelsüße Rieslinge gehören dazu, die besten können bis zu 100 Jahre alt werden.

In der industriellen Tierproduktion hat die Zeit als „Diktat der Geschwindigkeit“ besonders heftige Spuren hinterlassen. Nirgends kann das eindrucksvoller besichtigt werden als in der Geflügelmast. 20 Tage braucht ein Hähnchen, um sich im Ei zu entwickeln und auszuschlüpfen. Danach wird es in 33 Tagen förmlich zur Schlachtreife katapultiert, mehr als doppelt so schnell wie noch in den 60er Jahren. Diese „Zeitgewinne“ waren nur über rigorose Selektionen möglich, die dem Hähnchen eine Fressstörung anzüchteten. Es muss ständig fressen. Dabei wird in Kauf genommen, dass der Knochenapparat nicht mit dem Muskelzuwachs mithält, dass die Tiere Skelettverformungen und Bewegungsstörungen zeigen und Hühnerfleisch an Qualität verliert.

Unbequeme Sitze treiben in die Flucht

Not to go: Viele haben vergessen, dass man Kaffee auch in Ruhe und im Sitzen trinken kann
Not to go: Viele haben vergessen, dass man Kaffee auch in Ruhe und im Sitzen trinken kann

© Nicolas Armer/dpa

Schnell produziertes Fleisch wird genauso schnell gegessen. Womöglich als Streetfood im Gehen oder Stehen, was den Essgewohnheiten jener Steinzeitmenschen ähnelt, die bei ihren Streifzügen sofort aßen, was sie an Schnecken, Beeren und Käfern fanden. Immer mehr Zeitgenossen essen, ohne sich zu setzen. Dass man Kaffee auch im Sitzen trinken kann statt to go, ist für manchen ganz neu. Und wenn wir am Tisch Platz nehmen, muss es für Millionen Besucher ebenfalls schnell gehen. Im Fast-Food-Restaurant rechnet man vom Betreten bis zum Verlassen des Lokals mit 20 bis maximal 30 Minuten. Sinn des Restaurantbesuchs sind nicht mehr Atmosphäre, Gemütlichkeit und Geschmack. „Der Zweck des Essens liegt in seinem Verfahrensende“, schreibt der Ernährungssoziologe Tadashi Ogawa. Schon die Sitze sind bewusst so unbequem, dass man das Lokal schnell wieder verlässt. „Der Gast isst“, notiert Ogawa, „wie ein Pferd aus dem Eimer frisst.“

Ruckzuck soll alles zu kochen sein

Auch wer zu Hause kocht, hat oft den Uhrzeiger auf der Schulter. Selbst in Gourmet-Portalen wird Wert darauf gelegt, dass Rezepte ruckzuck nachzukochen sind. Dabei hat die Zeit beim Kochen ihren unterdrückenden Charakter eigentlich verloren. Früher waren Hausfrauen an den Herd gefesselt, mussten mühsam Teig kneten, was heute die Küchenmaschine elegant erledigt. Auch das Geschirrspülen übernimmt die Technik. Aber trotz enormer Zeitgewinne muss die Zubereitung des Essens schnell erledigt sein. Tiefkühlkost und vorgekochte Halbfertig-Produkte verzeichnen große Wachstumsschübe. Jeder Deutsche isst inzwischen mehr als 40 Kilo Fertigkost aus dem Froster, zehnmal mehr als 1970.

Der Zauber der Gemächlichkeit steht auf fast verlorenem Posten. Aber wer jemals einen 150 Tage alten Hahn von drei Kilo zu einem Coq au vin geschmort hat, lässt sich nicht mehr so leicht mit Plastikhähnchen aus dem Millionenstall der Hühnerbarone abspeisen. Die einen bügeln sonntags ihre Unterhosen, die andern köcheln eine aufwendige Hühnerbrühe und frieren sie portionsweise ein. Weil sie wissen, wie ein Risotto schmeckt, der mit richtiger Brühe bereitet und mit altem Parmesan gewürzt wird, der über viele Monate langsam in den Käsekellern gereift ist. Gutes Essen ist immer eine Frage der Zeit.

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