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Cupcakes: Fettnäpfchen

Konsumkritiker, Anti-Amerikaner: Rührt euch! Ein neuer Cupitalismus ist im Anmarsch - und er trägt Helme aus bunter Glasur.

Jeder ist anders. Jeder ist so hübsch wie ein Geschenk, bunt und in Papier. Und jeder Gast bekommt einen. Er ist demokratisch, aber auch dekadent. Er ist leicht zu fabrizieren und leicht zu transportieren. Und man kann zumindest einen essen, ohne sich schuldig zu fühlen. Die einen sagen, er ist das perfekte Dessert …

… die anderen finden, dass er jeden infantilisiert, der einen kauft, und dass er erfunden wurde für Menschen, die nicht in der Lage sind, normalgroße Lebensmittel zu essen, weil ihnen die motorischen Fähigkeiten fehlen, mit Messer und Gabel umzugehen. Man solle ihn den Vorschülern überlassen und damit basta.

Wenn etwas so Kleines so groß wird, dass es eine Kontroverse auslöst, dann ist es auch stark genug für den Sprung über den Atlantik. Nach den Bagels, Frozen Yoghurt und der Muffinwelle steht Europa nun das nächste US-kulinarische Erzeugnis ins Haus: der Cupcake.

Dawn Nelson stellt zwei kleine Kuchen in geriffelten Papiermanschetten auf den Tisch, sie würden vielleicht ein Teetässchen füllen, so klein, Schokoteig der eine, Vanille der andere. Deine ersten Cupcakes, sagt sie feierlich, es klingt wie ein lebensverlängerndes Medikament. Ihr Freund Daniel kommt an den Tisch und legt eine Spritztüte voll Creme daneben.

Dawn, Amerikanerin, 30, war früher Make-up-Artist in Philadelphia, sie hat Leute geschminkt und Kosmetik verkauft. Dann kam sie der Liebe wegen nach Berlin und fand keine Arbeit. Also hat sie sich was ausgedacht. Am 6. April hat sie in Friedrichshain Deutschlands ersten Cupcakeladen eröffnet: „Cupcake Berlin“ – und vor vier Wochen gleich Konkurrenz bekommen.

In Prenzlauer Berg ging es einer anderen Amerikanerin zur selben Zeit nämlich ähnlich: kein Job, aber eine Idee. Ashley Berger, 26, Kunsthistorikern aus San Francisco und auch der Liebe wegen in Berlin, wollte eigentlich in einer Kunstgalerie arbeiten – nun hat sie in ihrer „Cupcake Bakery“ an der Zionskirchstraße mit liebevoll-ironischem Blick für Kitsch einfach eine eigene Ausstellung aller Dinge gemacht, die sie hübsch findet: selbst gebackene bunte Cupcakes natürlich, aber auch wollige Nadelkissencupcakes, selbst geschneiderte Schürzen oder cupcakeförmige Glückwunschkarten. Amerikaner haben eben keine Angst, ihr Leben ganz neu anzupacken.

Auch wenn sie es nicht leicht haben mit dem Cupcake, diesem transatlantischen Geheimnis. Täglich kommen Kunden, die fragen: Was ist das eigentlich? Ist das Eis? Sind das Kerzen?

Nein, Cupcakes sind keine verkleideten Muffins. „Jeder fragt das“, sagt Dawn. Man kann sagen, Cupcakes sind die adligen Verwandten der buckligen Muffins. „Muffins sind grober. Trockener.“ Eher fürs Frühstück. Cupcakes dagegen sind für die netten Zeiten des Tages. Für die Teezeit. Für nach dem Dinner. Sie sind kleiner als Muffins und aus saftigem Rührkuchenteig. Sie sehen auch eleganter aus, denn oben drauf kommt das sogenannte Frosting: eine fette Haube aus aromatisierter Butter- oder Frischkäsecreme, reichlich bemessen, bunt eingefärbt, stark verziert. Und sehr, sehr süß.

Dawn hat vor der Eröffnung noch ein Jahr lang Rezepte ausprobiert – vor allem, um die transkontinentale Geschmackskluft zu überbrücken. Die Deutschen, zumindest die jungen Friedrichshainer, essen lieber Obstkuchen als Buttercremetorte. Dawn hat festgestellt: Der deutsche Schuldkomplex ist recht ausgeprägt angesichts einer Kalorienbombe. Also aromatisiert sie nun einige Frostings mit Minze, Orangen- und Zitronensaft statt mit Schokolade oder Erdnussbutter, sie bietet eine Veganervariante an, Bio-Cupcakes und Cupcakes ohne Gluten. Aber weniger Zucker – dazu hat sie sich dann doch nicht durchringen können.

In ihrer Theke stehen an diesem Tag „Pretty in Pink“, „Peppermint Party“, „Sugar ’n’ Spice“ und „Lemon Drop“. Ashley drüben in Prenzlauer Berg hat am Morgen Bananen-Ananas-, Kürbis- und Erdnusscupcakes mit Jellyfüllung gebacken. Aber das ist noch längst nicht alles. Im Standardwerk für Cupcakistas – „500 Cupcakes“ – hat Fergal Connolly, Koch und Lebensmittelstylist, Rezepte für jede Könnerschaft versammelt. Simple mit Apfelmus, anspruchsvolle mit Rosenwasser, absonderliche mit Kümmel. Ganz abgesehen von den Thementörtchen. Für Ostern mit Eiern, für Hochzeiten mit Schleifen, für Halloween mit Zuckertotenköpfen, für Genesende in Marzipanverbände gelegt. Dem Cupcake-Tuning sind kaum Grenzen gesetzt.

In Amerika ist so aus einem Trend schon fast Hysterie geworden. Vor der Mutter aller Cupcakeshops, der Magnolia Bakery in New York, 401 Bleecker Street, Greenwich Village, warten die Kunden täglich in einer 30-Meter-Schlange, es sieht aus, als stünden sie für die Staatsbürgerschaft an. Starbucks hat auch schon Cupcakes ins Programm genommen, und in London sind sie ebenfalls angekommen. Die schönsten stammen aus der Hummingbird Bakery in Notting Hill: Mulberry-Designer Stuart Vevers hat sie gerade zur Fashionweek servieren lassen.

Allerdings: Wo so viel Liebe ist, ist der Hass nicht weit.

Für manche ist der Cupcake nämlich vom Teufel – vor allem für die, die Amerikas Übergewicht bekämpfen. Jetzt haben sie sich die Schulen vorgenommen. Ein Schuldistrikt nach dem nächsten verbannt die Cupcakes. Sie seien einfach überall, klagen Ernährungswissenschaftler. Kantinen, Baseballspiele, Schulbasare. Um die 280 Cupcakes soll ein kleiner Amerikaner im Jahr essen. Je nach Frosting und Dekor haben sie mitunter so viele Kalorien wie ein Big Mac.

Aber kampflos geht so ein Verdikt natürlich trotzdem nicht durch. Der New Yorker Politiker Michael Benjamin, Demokrat aus der Bronx, hat Ende September erst einen Gesetzesentwurf eingereicht, wonach der Cupcake New Yorker Nationalgebäck werden soll. „Dann wäre es illegal, ihm etwas anzutun.“ Der Cupcake, sagt Benjamin, repräsentiere doch das Amerikanische überhaupt! Das Dessert zu den „family values“ sozusagen.

Cupcakes sind reine Nostalgie. „Mom–in–an–apron–food“, sagen die Amerikaner: wie von Muttern in ihrer Schürze. Essbare Erinnerungen an eine heilere Welt. „Jeder Amerikaner wächst mit Cupcakes auf“, sagt Ashley. Wann sie zum ersten Mal gebacken wurden, ist allerdings seltsamerweise nicht herauszufinden. In den Kochbüchern von Betty Crocker – einer Vorzeigehausfrau, die der Lebensmittelkonzern General Mills erfunden hat, eine Art US-Klementine für Essbares – fanden sich Cupcakerezepte jedenfalls schon im Jahr 1933.

Wann der Cupcake zum „In-Item“ wurde, ist dagegen recht genau auszumachen: In der fünften Folge der dritten Staffel von „Sex and the City“ saß Carrie zum ersten Mal auf der Bank vor der Magnolia Bakery und biss in ein elegantes Törtchen mit rosa Creme drauf. Danach fing das an mit den Schlangen. Dann entschieden die Inhaberinnen, dass kein Kunde mehr als zwölf Törtchen kaufen dürfe. Was den Hype natürlich noch verstärkt hat. Und den Hass. In einem Blog schreibt ein New Yorker entnervt: „Ihr Leute müsst zurück in die Vorstadt. Mal im Ernst: Gruppen erwachsener New Yorker, die sich über Cupcakes erregen... Ich vermisse die Schießereien.“

Dawn holt jetzt ein Tablett voller Plastikdöschen mit Bäckerdeko und stellt sie neben die beiden nackten Cupcakes in ihren Papiermanschetten. Sie drückt dem Besuch die Spritztüte in die Hand und zeigt, wie man das macht mit dem Cremeturm. Von außen nach innen, schön langsam und in der Mitte ein Zipfelchen Creme mit Schwung nach oben ziehen. Dann darf der Besuch das Stück bewerfen mit allem, was da ist. Silberne Kugeln, bunte Streusel, pinkglitzernde Zuckersplitter, rosa Puder, rote Herzen…

Ja, Cupcakes sind „girlie“. Die „New York Times“ hat Männern sogar praktisch verboten, sie zu essen. Cupcakewebseiten sind grundsätzlich rosa, die Backbücher auch, und Ashleys und Dawns Berliner Läden sind eher Puppenstuben als Bäckereien. Ist dies tatsächlich ein Trend, den nur Frauen wirklich verstehen?

Dawn nickt. „Und Schwule“, sagt sie. „Und kleine Mädchen“, sagt Daniel. Trotzdem läuft der Laden jeden Monat besser. Sorgenfrei leben, sagt Dawn, das ist noch weit, aber immerhin: Neulich war schon Katie Holmes da, Mrs. Tom Cruise. Einmal „Pretty in Pink“, please.

KAUFEN: „Cupcake Berlin“, Krossener Straße 12, Telefon 25 76 86 87.

„Cupcake Bakery“, Zionskirchstraße 36, Telefon 41 71 76 53.

LESEN: Fergal Connolly, „500 Cupcakes“, Sellers Publishing 2006, 10 Euro.

SURFEN: Rezepte, Dekoideen sowie eine Liste von Shops weltweit unter www.cupcakestakethecake.blogspot.com.

LERNEN: Auf www.youtube.com kann man sich vom Magnolia-Chef abgucken, wie das Frosting nicht profan per Spritztüte, sondern gekonnt per Hand aufgetragen wird (unter dem Stichwort magnolia cupcake frosting maker).

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