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Ein paar Häppchen und ein Glas Wein gehören zum Apéro immer dazu.

© Swiss Apéro

Der Apéro - so schweizerisch wie das Matterhorn: Die Schweiz macht sich locker

Am 1. August feiern die Eidgenossen ihren Nationalfeiertag. Wer die Schweiz kennen lernen möchte, sollte zum Apéro gehen. Die Häppchenkultur prägt das Sozialleben des Landes.

Herr Fankhauser war erstaunt. Um nicht zu sagen: erschrocken. Wie förmlich diese Deutschen miteinander umgingen! Als Schweizer Geschäftsmann hatte er häufiger mit ihnen zu tun. Da arbeiteten die Leute seit Jahren, manchmal Jahrzehnten zusammen – und siezten sich immer noch. Und wenn die Gespräche beendet waren, nahm man seinen Hut und ging. Daheim wäre man jetzt zum geselligen Teil übergegangen, hätte in lockerer Atmosphäre beim Apéro noch ein paar Dinge besprochen, engere Bande geknüpft.

An diesem heißen Berliner Sommerabend hat Chris Fankhauser einen kleinen Apéro vorbereitet, einen goldenen Dôle Blanche aus dem Wallis geöffnet, Appenzeller Rindsmostbröckli – dünne Scheiben Luftgetrocknetes – auf dem Teller ausgebreitet, den kräftigen Aberotkäse aufgeschnitten und die Chips mit Namen „Zweifel“ in die Schüssel gefüllt, die heimwehkranke Schweizer offenbar tütenweise nach Hause schleppen. Zusammen mit seinem deutschen Partner Matthias Kaiser, der lange in Zürich gelebt hat, führt Frankhauser heute in Wilmersdorf einen Schweizer Laden, das „Chuchichäschtli“, in dem man Zutaten für einen waschechten Apéro bekommt: Bündner Fleisch natürlich, Käsegebäck, Le Parfait aus der Tube, mürben Sbrinz, den die Eidgenossen für den besseren, da weniger salzigen Parmesan halten.

Den Apéro, erklärt Frankhauser mit Inbrunst, habe er wie Muttermilch aufgesaugt. Ein Leben ohne ihn – undenkbar. „Das ist so ein schöner Brauch!“

Als „typisches Schweizer Genuss-Ritual“ beschreibt ihn Pius Regli, der in seinem Restaurant auf Sylt in diesem Sommer zum ersten Mal einen Apéro anbietet: luftgetrocknete Spezialitäten, mit Käse, Trauben und Nüssen, auf der Schieferplatte angerichtet, dazu ein Glas Wein. Ein Paket für zwei Personen, macht 19,90 Euro. Was dann doch wieder sehr deutsch wirkt. Der Apéro ist auch weniger für Paare als für Gruppen gedacht, die sich, mit dem Glas Wein in der Hand, ungezwungener begegnen können.

Natürlich haben die Eidgenossen den Apéro nicht erfunden, das haben die Italiener und Franzosen getan, wobei ja auch die Schweizer ein bisschen französisch und italienisch sind, und überhaupt viel südländischer, als die Germanen glauben. Aber sie haben ihn sich zu eigen gemacht. Und da knapp ein Viertel der Einwohner von anderswoher stammt, ist der akklimatisierte Import wieder ziemlich typisch für die Nation, die am nächsten Samstag, dem 1. August, Nationalfeiertag feiert. Selbst in Wilmersdorf: im und um das „Chuchichäschtli“ herum, in der Holsteinischen und Güntzelstraße, von 11 Uhr früh bis 23 Uhr.

Anfang oder Ende, Auftakt oder Ausklang

Zur Institution, so schweizerisch wie das Matterhorn, hat Betty Bossy den Apéro erklärt. Wobei die gleichnamige Kunstfigur, die ihren Landsleuten seit knapp 60 Jahren das Kochen beibringt, selber eine Art Matterhorn ist. Ob ein Mitarbeiter verabschiedet wird, jemand Geburtstag oder sein Baby feiert, dauernd wird im Büro dazu geladen. Wobei es gar keines besonderen Anlasses bedarf, man trifft sich auch oft einfach so spontan auf ein lustiges Stündchen. Zu Hause, im Betrieb, in der Bar, zum Ausklang nach Vorträgen und Konferenzen, vor oder statt des Hochzeitsdinners ... Der Apéro kann Auftakt oder Ausklang sein, aber eigentlich ist er ein eigenes Zwischenreich: etwas zwischen Alltag und Feierabend, rein beruflichen und privaten Gesprächen, zwischen dem Eintrudeln der Gäste und dem Essen, zwischen Nachhausekommen und Kochen. Bei schriftlichen Einladungen werden oft sogar die Grenzen dieses Zwischenreichs markiert, zwischen 19 und 21 Uhr beispielsweise. Nur beim Apéro prolongé ist das Ende offen.

Kurzum, er ist ein unglaublich flexibles Gefäß, das jeder auf seine Art füllen kann.

Weder Feierabendbier noch Besäufnis

Ein paar Häppchen und ein Glas Wein gehören zum Apéro immer dazu.
Ein paar Häppchen und ein Glas Wein gehören zum Apéro immer dazu.

© Swiss Apéro

Was er nicht ist: ein Getränk. Weder ein profanes Feierabendbier noch ein Besäufnis. Man sollte ihn auch nicht verwechseln mit dem Aperitif, den man in deutschen Restaurants bestellt, während man in der Speisekarte blättert. Zum Aufwärmen treffen Schweizer sich lieber an einem eigenen Ort, in der Bar oder unWohnzimmer, erst dann zieht man um ins Restaurant oder lässt sich nieder am Tisch, der ja immer schon, so Fankhauser, eine feste Struktur vorgibt.

Deswegen laden Verlage auch gern einmal im Jahr zum großen Apéro ein, Diogenes zum Beispiel in den eigenen Garten, Nagel & Kimche in Zürichs Frauenbadi. Dort dürfen am Abend in der Barfußbar dann auch die Männer zumindest die Füße ins Wasser tauchen, man plaudert hier und dort. „Der Witz ist, dass alle zirkulieren“, so Verlagsmitarbeiterin Dorothee Binder. Allerdings soll der Spaß hier nicht zur Gewohnheit werden. Deswegen, erklärt Binder munter, findet das Fest nur alle zwei Jahre statt: „Die Leute sollen wahnsinnig gierig sein, eingeladen zu werden.“

Eine Kleinigkeit wird immer serviert, Chips und Oliven im einfachsten, Schinkengipfeli und Käsechüechli im fortgeschrittenen Fall. Wer die Laugenbrötli nicht selber schmieren mag, kann sie bei der Confiserie Sprüngli bestellen. Aber eine Unterlage muss sein, damit der Alkohol die Anwesenden nicht gleich umwirft, denn oft beginnt die Geselligkeit schon am Nachmittag.

Zu Alkoholikern hat er die Schweizer nicht gemacht

Zu trinken gibt es Wein, mehr weiß als rot, es kann aber auch ein Aperol Spritz sein, ein Sekt oder Quöllfrisch-Bier. Wobei das vergnügte Ritual die Schweizer offenbar keineswegs zum Volk von Trinkern macht: In der europäischen Statistik des Alkoholkonsums liegen die Eidgenossen ziemlich weit hinten. Er ist einfach zur Auflockerung gedacht.

Für manche ist der Apéro auch eine elegante Form der Annäherung. Wenn man jemanden vielleicht noch nicht gut genug kennt, um ihn gleich zum Dinner zu bitten. Denn das ist der Apéro nicht. Er soll den Appetit anregen, nicht killen. Nur beim Apéro riche gibt’s Essen satt.

Als Form der Selbstdarstellung versteht ihn Daniel Müller-Jentsch, Mitarbeiter der Avenir Suisse, einer Denkfabrik der Schweizer Wirtschaft: Man zeigt, was man hat. Nicht angeberisch, eher elegant – Spezialitäten aus der Region, auch der Wein aus der Gegend, das Ganze so apart dargeboten, wie der Name klingt. „Da werden nicht einfach ein paar Mettbrötchen hingestellt, das wird zelebriert.“

Wichtig für den sozialen Kitt

Ein paar Häppchen und ein Glas Wein gehören zum Apéro immer dazu.
Ein paar Häppchen und ein Glas Wein gehören zum Apéro immer dazu.

© Swiss Apéro

Für Tim Guldimann, bis Juni Schweizer Botschafter in Berlin, ist der Begriff „wie ein Rahmen, der dazu dient, Menschen zusammenzubringen und einen maximalen Austausch zu pflegen, ohne dass man großen Aufwand treiben muss“. Für ihn sind die Menschen das Wichtigste, nicht, was auf den Platten liegt. Und bloß keine Reden! „Niemand will Reden.“ Eine Minute Ansprache, findet der Diplomat, genügt.

Zur Pflege von Netzwerken kann man den Apéro nach Meinung von Daniel Müller-Jentsch gar nicht hoch genug schätzen. Dem Deutschen ging es genau umgekehrt wie Chris Fankhauser: Verblüfft und hocherfreut lernte er, als er vor acht Jahren nach Zürich zog, diese Kulturtechnik kennen. Für den Ökonomen ist der Apéro eine Investition, die sich lohnt: in den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Kommunikation und Kooperation. In einem Land, das so zerklüftet ist, drei Sprachen spricht und aus 26 sehr eigenständigen Kantonen besteht, sei die Zusammenarbeit besonders wichtig. Was seiner Meinung nach auch die Erklärung für die Offenheit gegenüber anderen ist, die sich beim Apéro manifestiert, sowie in den flachen Hierarchien in den Betrieben, in denen sich fast jeder duzt. Und wenn nicht: Nach Konferenzen und Geschäftstreffen wird beim Apéro gern das Du angeboten. „Dort wird das Eis gebrochen.“

Die erste Pop-up-Apéro Bar in Deutschland

Kein Wunder, dass die Schweizer Fleischwirtschaft nun versucht, den Brauch nach Deutschland zu exportieren. Vor allem in Form abgepackter, meist luftgetrockneter Spezialitäten aus unterschiedlichen Regionen. Im Winter soll eine Pop-up-Apéro-Bar Gelegenheit zum Einüben des Rituals geben. Im Zuge der Marktforschung in Süddeutschland haben sie allerdings gemerkt, dass man ein bisschen aufpassen muss beim Marketing. So ist auf den Fotos kein Brot zu sehen: weil die Deutschen, so die Beobachtung, sich mit dem feinen Finger-Food in Form von Bündner Fleisch dann gleich ein Butterbrot machen wollen.

In Berlin ist er auch ohne Verbandshilfe schon im kleinen Stil angekommen. Sabine Dörlemann, die mit ihrem Literaturverlag eigentlich in Zürich sitzt, bittet einmal im Jahr zum Apéro in ihre Charlottenburger Wohnung, wo dann Journalisten, Buchhändler und Schriftsteller zusammenkommen. Anfangs riefen noch viele etwas ratlos an. Inzwischen muss sie das Wort nur noch selten erklären. Auch der SchriftstellerPatrick Maisano, Sohn einer Schweizerin und eines Italieners, nun in Berlin zu Hause, lädt zu seinem Geburtstag gern zum Apéro ein. Nächste Woche tritt er im Literarischen Colloquium am Wannsee zusammen mit einer Reihe von Autoren und Musikern bei einem „Helvetischen Fest“ auf. Mit happy end: Nach der Lesung bittet die Schweizer Botschaft zu Käse und Wein.

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