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Gesellschaft: Der tapfere Herr Pumpernickel

Es schmeckt mit Schwein und mit Rosinen, es ist deftig, saftig und gesund – die Westfalen sagen „Swattbraut“ dazu. Seit 500 Jahren backt die Soester Familie von Jochen Haverland das schwarze Brot.

Roggenschrot, Wasser und Zeit. Viel Zeit, ein ganzer Tag: Die Zutaten, aus denen das dunkle Brot der Westfalen gebacken wird, haben sich seit einem halben Jahrtausend nicht verändert. „Eigentlich“, sagt Jochen Haverland bedächtig, „kann man bei einer Temperatur von 104 Grad gar nicht von Backen sprechen. Das Brot wird eher gedämpft.“ Im Moment ruht Haverlands Pumpernickel noch in einer großen Metallschüssel, eine hellbraune Masse, die aussieht wie nasser, westfälischer Lössboden. Über Nacht gegärt, ein paar Stückchen Pumpernickelbrot werden dazu dem Roggenschrot zugesetzt, das ist alles. In Haverlands Pumpernickel kommen, wie es die Tradition vorschreibt, weder Salz noch Farbstoffe, weder Hefe noch Rübenkraut – alles Zutaten, die die Backzeit von 24 Stunden verkürzen würden.

„Aber dann“, sagt der Meister, „ist Pumpernickel nicht mehr Pumpernickel.“ So was würde er in seiner Backstube nie produzieren.

Ein Bäcker geht jetzt mit den Händen in den Teig, holt große Brocken heraus und drückt sie energisch in eine Maschine, die die Masse in Form bringt. Aufmachen nennt man das. Unten kommen dicke Teigwürste heraus, die die Bäcker nach Gefühl abschneiden. Sie wissen genau, wie lang eine Wurst sein muss, damit sie in die eiserne Kastenform passt. Wenn alle Kästen voll sind, geht es in den Ofen. Und dann ist erst einmal Ruhe, bis morgen um die gleiche Zeit.

Nur ab und zu wird ein wenig Wasserdampf über die Brote gesprüht, damit, so Haverland in seinem weichen Westfälisch, „sie nicht ganz furztrocken werden“. Auch diese Verabreichungen erfolgen „nach Gefühl“. Gefühl, die vierte Pumpernickelzutat.

Jochen Haverland ist ein hagerer, nicht besonders großer Mann mit feinen Gesichtszügen, melancholischen Augen und einem Vollbart. Nicht unbedingt der Typ polternd-bodenständiger Westfale mit vererbtem Schützenfest-Gen. Aber bodenständiger als Haverland zu sein, ist schwierig. Der 50-Jährige ist Chef eines der ältesten Familienbetriebe Deutschlands, Erbe einer Pumpernickeldynastie, die seit mindestens 1570 im westfälischen Soest existiert.

Haverland Pumpernickel gehört zu Soest wie das Dehnungs-E, das das O diskret verlängert, ohne dass daraus ein Ö wird. Nur ahnungslose Nichtwestfalen sagen Söst, das klingt den Soestern respektlos, ja lächerlich. Was heute eine ziemlich verschlafene Kleinstadt ist, mit Fachwerkhäusern, einem schönen Wallring und einer deprimierenden Fußgängerzone, war im Mittelalter ein bedeutendes Zentrum der Hanse. Nicht so stark wie Lübeck oder Bremen, aber immerhin reich genug, eine erstaunliche Menge großer Kirchen aus dem ortsüblichen grünen Sandstein zu bauen. Darunter die gotische Wiesenkirche, deren schlanke Türme ewig eingerüstet sind, weil der grüne Stein zwar elegant ausschaut, aber bröselig ist wie altes Brot.

Nicht wie Pumpernickel. Pumpernickel klebt, sagt der selbst eher trockene Haverland, und gerät tatsächlich ins Schwärmen, „wenn er an den Zähnen kleben bleibt, ist er herrlich, saftig, gar“. Eines der grandiosen Glaskunstfenster in der Wiesenkirche ist das um 1500 entstandene „Westfälische Abendmahl“. Es zeigt Christus und seine Jünger wie üblich an einer langen Tafel. Nur was an Speisen darauf ist, unterscheidet sich von der üblichen Ikonografie: ein Schweinskopf, ein Schinken, Bier in irdenen Krügen und dunkles Brot in einem Weidenkorb.

Ob es Pumpernickel ist, darüber streiten die Experten. Pumpernickel jedenfalls war das täglich Brot der Westfalen bis weit in das 20. Jahrhundert. „Weil man keine Mühle brauchte, sondern es reichte, den Roggenschrot in einem Mörser zu zerstampfen, wurde Pumpernickel überall auf den Höfen gebacken“, erzählt Jochen Haverland. Soest lag an der südlichen Grenze von Pumpernickelland, das sich von Papenburg im Norden bis Minden im Osten und Bocholt im Westen erstreckte. Die Leute im Pumpernickelland sagten nicht Pumpernickel, sondern „Swattbraut“ oder einfach nur „Braut“. Sie aßen es morgens in die Biersuppe gebrockt, nach der Feldarbeit mit Butter zum Kaffee und abends wieder zur Suppe. Die größte Delikatesse für Kinder war Swattbraut un Stuten, eine Scheibe Pumpernickel mit Butter, auf die obenauf eine Scheibe Rosinenbrot gelegt wurde.

Doch der Pumpernickel schmeckt auch ohne Rosinen ganz süß. „Weil die Stärke des Korns durch die lange Backzeit ganz langsam karamellisiert“, sagt Haverland, malt mit leichten Bewegungen das Korn in die Luft und lässt es an den Fingerspitzen aufplatzen. In Soest isst man Pumpernickel daher nicht nur traditionell zum Schinken, sondern macht Süßspeisen daraus.

Das „Pilgrimhaus“ am Jakobitor mit Gasthaus seit anno 1304, hat ein wunderbar harmonisches und doch aufregend exotisches Pumpernickelparfait auf der Karte, Halbgefrorenes mit Schokolade und Schwarzbrot. In großzügigen Portionen, wie es sich für Westfalen gehört.

Der Name Pumpernickel, so doziert Meister Haverland hinter seiner randlosen Brille, setze sich zusammen aus Pumper und Nickel. „Nickel, das ist im Westfälischen ein komischer Kauz, ein Heini. Und Pumpern, das heißt Furzen. Weil zuviel Pumpernickel bei Nichtwestfalen Blähungen auslösen kann, nannte man das Brot einen Furzheini.“ Das ist zwar eine ziemlich saftige Version, aber nur eine von vielen.

Haverlands Großvater Wilhelm hat selbst eine Familienlegende niedergeschrieben, nach der schon 1444-47, zur Zeit der Soester Fehde gegen den Kölner Erzbischof, die Frau des Bäckers Nikolaus Haverland aus Versehen den Pumpernickel erfand, indem sie den Brotteig einfach im erkaltenden Ofen vergaß. Als sie ihr leckeres Produkt herauszog, sagte sie zu ihrem Mann: „Sieh’ doch das Wunder, Nickel.“ Und der verstand nur Pumpernickel.

Im Soester Stadtarchiv findet man in den Bergen von Pumpernickel-Literatur eine Menge Erklärungsvarianten. Für die einen hat er mit dem Brot der Westfalen rein gar nichts zu tun, sondern ist eine süddeutsche Bezeichnung für einen Hanswurst. Die anderen orientieren sich an der Anekdote über einen französischen Soldaten, der das von Bauern dargereichte Schwarzbrot mit den Worten zurückwies: „Ca c’est bon pour Nicle“, das ist gut für Nicle – das Pferd. Manche behaupten auch, mit Nicle oder Nicol sei gar nicht der Gaul gemeint gewesen, sondern der Franzos’ selbst, der den Pumpernickel durchaus genossen habe. Man kann ja nicht immer nur Baguette essen.

Tatsächlich wurde Pumpernickel im napoleonischen Paris kurzfristig le dernier cri. Am dunklen Brot der Westfalen haben sich die Franzosen regelrecht abgearbeitet, wie die Vielzahl der Pumpernickel-Zeugnisse zeigt. Voltaire hatte nur Verachtung dafür: „Bald darauf habe ich die weiten und schwermütigen, unfruchtbaren, abscheulichen westfälischen Landstriche durchquert. In großen Hütten, die man Häuser nennt, sieht man Tiere, die man Menschen nennt… Ein gewisser trockener, schwarzer und klebriger Stein, bestehend, wie man sagt, aus einer Art Roggen, ist die Nahrung des Hausherrn.“ Das Brot wurde im Ausland, auch in den übrigen deutschen Regionen mit den Westfalen gleichgesetzt: ungebildet, unkultiviert, bäuerlich. Weißbrot für die Herren, Schwarzbrot für die Knechte. Das änderte sich erst, als die ersten medizinischen Schriften über die Vorzüge des verdauensfördenden Brots erschienen. Der Chemiker Justus Liebig etwa schrieb über Westfalen: „Es gibt kein Land, in welchem die Verdauungswerkzeuge der Menschen sich in besserem Zustande befinden.“ Und das liege am Pumpernickel.

Sein Produkt, sagt Jochen Haverland, enthalte viermal so viel Ballaststoffe wie Weißbrot. „Wir machen das gesündeste Brot der Welt.“ Trotzdem ist das Rezept nicht geschützt. Überhaupt haben die Deutschen, die doch so stolz auf ihren Brotsorten-Weltmeistertitel sind, nicht gerade ein Herz für das einzige Brot, das wirklich weltberühmt ist. Bäcker Haverland berichtet von Kunden, die ihn erbost anrufen, weil sein Pumpernickel teurer sei als die Ware beim Discounter gleich neben der Bäckerei. Dabei ist ein Liter Benzin bald so teuer wie ein Pfund Pumpernickel, das jetzt 1,70 Euro kostet.

Haverland erzählt, dass es in Soest nach dem Krieg 40 Backstuben gab – „heute sind es noch zwei“. In Italien bekommen immer mehr Brotsorten geschützte Herkunftsbezeichnungen, Brot-Weltmeister Deutschland traut sich nicht, auf sein Back-Kulturerbe stolz zu sein. So musste Haverland 2004 Insolvenz anmelden. Ihm war ein Großkunde weggebrochen, eine Tankstellenkette mit 600 Läden. Auch wenn er die wichtigsten Feinkostgeschäfte von München bis Berlin bedient, schließlich war schon sein Großvater bayerischer Hoflieferant: „die werden immer weniger“, sagt Jochen Haverland. „Vor kurzem noch hat in Dortmund ein großes Traditionsgeschäft zugemacht.“

Der Bäcker hat die Krise überstanden. Neun Monate nach der Insolvenz kaufte Haverland seine Firma wieder. Inzwischen hat er den Mehrheitsanteil an den Lebensmittelmulti Haristo abgegeben, der macht mit Wurstwaren, Fischdosen und Tierfutter einen Milliardenumsatz, da gibt es vertriebsmäßig ganz andere Möglichkeiten. Jochen Haverland ist Geschäftsführer in der Firma geblieben, die fast 500 Jahre allein seiner Familie gehörte. Er hat zwei halbwüchsige Söhne: „Ich weiß noch nicht, was sie machen wollen, aber für mich ist klar, dass ihr Lebensglück höher steht als die Firma.“ Aber noch ist Pumpernickel Pumpernickel und die Zutaten dieselben wie seit 500 Jahren: Roggenschrot, Wasser, Zeit und Gefühl.

Haverland, Verkaufslokal am Markt 6, 59494 Soest, über www.pumpernickel-original.de auch Internet-Direktverkauf.
In Berlin ab nächste Woche wieder bei „Brot und Butter“ (Hardenbergstr. 4-5, Tel. 263 003 46, vorher anrufen, ob vorrätig).

Birgit Schönau

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