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Stärkung für Leib und Seele. Szene aus dem Film „Anduni – Fremde Heimat“.

© Mit freundlicher Genehmigung von Filmlichter 2015

Ein Fest für den Verstorbenen: Ein letztes Mahl

Er darf gern süß sein wie Blechkuchen und deftig wie eine Terrine: Der Leichenschmaus soll Trost spenden. Eine kulinarische Kulturgeschichte zum Totensonntag.

Gestorben war sie am vierten Advent. 56 Jahre alt. Krebs. „Sie hat so gerne gelebt“, stand in der Anzeige. Hatte so gerne gefeiert, gegessen, getanzt. Es sollte ein schöner Ort sein für den Leichenschmaus nach der Trauerfeier, einer, der zu ihr passt. In jener merkwürdigen, fast unwirklichen Zeit, die sich zwischen den Tagen nennt, fuhren die Trauernden vom Friedhof in Wilmersdorf zum Café am Neuen See. In den Fenstern des Pavillons standen unzählige Kerzenleuchter, über die weiß gedeckten Tafeln zogen sich Rosenblätter wie Girlanden.

Manche der Gäste hatten sich seit Jahren nicht gesehen, andere noch nie, hatten nur voneinander gehört. Fröstelnd tauten sie auf, wärmten sich an Suppe, Geschichten und Wein. Je später der Nachmittag, desto fröhlicher der Schmaus, je dunkler der Tiergarten, desto märchenhafter leuchteten draußen, fast sommerfestlich, die Glühbirnenketten, spiegelten sich die flackernden Kerzen in Fenstern und Gläsern. Niemand, der dabei war, hat die verzauberte Stimmung vergessen. Keiner, der nicht dachte: Das Fest hätte B. gefallen. Es war das letzte Mal, dass so viele, die mit ihr verbunden waren, zusammenkamen. Ihr letztes Mahl.

Schlaffe Brötchen, blass wie die Trauernden

Beim Leichenschmaus denken viele an triste Friedhofscafés und schlaffe Brötchen, so blass wie die Trauernden selbst, dazu Industriekuchen, Filterkaffee und hinterher Schnaps. Aber die Bestattungskultur hat sich, gerade in einer Stadt wie Berlin, in den letzten Jahrzehnten radikal verändert. Auf durchaus paradoxe Weise: Einerseits lassen sich immer mehr Leute am liebsten so schnell, günstig und anonym wie möglich entsorgen, gleichzeitig werden die Feste für den Toten immer persönlicher. Der maßgeschneiderte Leichenschmaus statt einer von der Stange.

Drei Gruppen hat Jan Möllers von „memento Bestattungen“ als Vorreiter für diesen Wandel ausgemacht: die Schwulen, die so viele junge Freunde verloren haben; verwaiste Eltern, deren Kinder gestorben sind und die einen Horror vor Nullachtfünfzehnzeremonien haben; und die Hospizbewegung. Das Trauern, sagt der Kulturwissenschaftler, wird ernster genommen, die Trauerfeier gefühlsbetonter.

Matthias Braun, schwuler Finanzberater aus Schöneberg, war schon bei vielen Beerdigungen, ein paar hat er selbst mit organisiert. Der größte Unterschied für den 47-Jährigen: dass es die Freunde sind, die die Trauerfeiern gestalten, nicht die Verwandten. Das heißt ohne innerfamiliäre Animositäten, ohne Erbschaftsstreit. Und niemand muss auf Tante Erna Rücksicht nehmen. Wenn die Familien den Schmaus gestalten, so Brauns Eindruck, ist er oft steifer, normierter. „Da findet man den Verstorbenen nicht so.“

Picknick für den Verstorbenen

Die Beerdigungen, bei denen er war, waren meist richtige Feste. Beim einen Freund brachte jeder was zum Picknick vorm Reichstag mit, beim anderen wurde am Abend eine Riesenparty gefeiert, wie der Verstorbene selbst es nicht lange zuvor gemacht hatte. Wo der Unterschied war? „Ganz einfach: Er hat gefehlt.“

Es ist das erste Mal, dass man es richtig erlebt: Jetzt ist derjenige nicht mehr da.

Nie ist der Mensch bedürftiger als in diesem Moment, erschöpft von Trauer und Tränen am Grab. Beim Leichenschmaus kehrt er ins Leben zurück – Essen ist Leben. Dabei wird so viel gelacht wie bei der Trauerfeier geweint. Beim gemeinsamen Schmausen und Reden, unterstützt vom Alkohol, löst sich die Spannung. Man kriegt Abstand, wird abgelenkt, erinnert sich des Toten als Lebendem, vergewissert sich der Gemeinschaft. Die Hinterbliebenen sind nicht allein.

Trauern zehrt

Stärkung für Leib und Seele. Szene aus dem Film „Anduni – Fremde Heimat“.
Stärkung für Leib und Seele. Szene aus dem Film „Anduni – Fremde Heimat“.

© Mit freundlicher Genehmigung von Filmlichter 2015

Mögen viele auch glauben, dass sie nichts runterkriegen – Trauern zehrt. „Da wird richtig reingehauen“, so Magdalena von Bismarcks Erfahrung. Die „verhinderte Bühnenbildnerin“ veranstaltet in ihrem „Luftraum“ am Nollendorfplatz Hochzeiten, Geburtstage und zwischendrin auch mal einen Leichenschmaus. Da sie ohnehin jede Feier auf die Hauptperson zuschneidet, gibt es für sie da erst mal keinen grundsätzlichen Unterschied. „Man tastet immer die Stimmung ab.“ Nicht das Essen steht bei ihr im Mittelpunkt – „Geborgenheit zu erzeugen, ist das Allerwichtigste“. Das Buffet stellt sie in die Mitte des Raums, sodass dort alle zusammenkommen, sich gegenseitig auftun und teilen. Die Speisen, findet die Veranstalterin, sollten etwas Verbindendes haben, nicht kleinteilig sein: eine dicke Terrine, ein fetter Braten, ein Streuselkuchen, „eher archaisch“. Einmal kochte sie aus dem handgeschriebenen Kochbuch einer jungen Frau die Mulligatawny Suppe nach. „Die Leute waren ganz gerührt: ,Das hat genau so geschmeckt wie bei ihr!‘ “

Nach Suppe und Blechkuchen wird fast immer gefragt, das ist das, was alle kennen. Für die Tradition gibt es gute Gründe – etwas Wärmendes für Körper und Seele kann jeder brauchen, zumal, wenn er stundenlang auf dem Friedhof frieren musste, etwas Süßes wird in allen Kulturen serviert. Zudem kann man beides für wenig Geld in großen Mengen vorbereiten. Und die Reste schmecken noch am nächsten Tag. Denn das ist die große Herausforderung: Abgesehen von Beerdigungen im engsten Kreis weiß kein Mensch, wie viele kommen. „U.A.w.g.“, schreibt niemand auf die Anzeige drauf. Überhaupt, die Einladung. Schriftlich? Mündlich? Am Grab? Für alle oder nur Auserwählte? Da kann es zu Verletzungen, zu Peinlichkeiten kommen. Aber die Regel gilt: Der traurigste Leichenschmaus ist der, den es nicht gibt. Wenn die Trauernden trostlos nach Hause schleichen, jeder für sich.

"Tröster" wird der Schmaus auch genannt

Auch heiße Würstchen gehen im Berliner Luftraum reißend weg. Vielleicht, weil sie so unkompliziert sind, an die Kindheit erinnern. Und wann bräuchte man Comfort Food dringender als jetzt. „Tröster“ wird der Leichenschmaus in manchen Gegenden genannt.

„Reue“, sagt Christoph Kuckelkorn als Rheinländer dazu. Leichenschmaus, das klingt Kölns bekanntestem Bestatter zu kannibalistisch. Wie viele Großstadtbetriebe versteht Kuckelkorn sich nicht als Sargverkäufer, sondern als jemand, der den Verstorbenen in seiner Persönlichkeit darzustellen versucht. Mit Karten, Blumen, Musik – und Essen.

Für den Kölner Karnevalspräsidenten ist es ganz wichtig, dass die Leute noch während der Beerdigung etwas haben, worauf sie sich freuen können. Und „die Location“ sollte was mit dem Verstorbenen zu tun haben. Daher rät er eher zur Stammpizzeria des Verstorbenen als zur bequemsten Lösung, dem Friedhofscafé. Von der Bewirtung daheim rät der Bestatter eher ab. Weil die Hinterbliebenen dann noch etwas selbst organisieren müssen – und das Ende nicht selber bestimmen können. Denn je trunkener, desto sentimentaler und sesshafter die Gäste.

Beerdigungskartoffeln, mit Cornflakes überbacken

Stärkung für Leib und Seele. Szene aus dem Film „Anduni – Fremde Heimat“.
Stärkung für Leib und Seele. Szene aus dem Film „Anduni – Fremde Heimat“.

© Mit freundlicher Genehmigung von Filmlichter 2015

In angelsächsischen Ländern ist es durchaus üblich, vom Friedhof ins Wohnzimmer zu ziehen. Ein Relikt aus der Zeit, da man den Toten dort aufbahrte, und jeder, der kam, was zur Stärkung kriegte. Auf dem irischen Land macht man das heute noch. Abgesehen von Mexiko wird dort ohnehin am fröhlichsten gefeiert – gesoffen, gesungen und getanzt. In Amerika bringen viele Gäste was zu essen mit, Aufläufe und Selbstgebackenes. In Utah gibt’s dann oft „Beerdigungskartoffeln“, eine abenteuerliche Mischung aus geriebenen Kartoffeln, Zwiebeln, saurer Sahne, Hühner- oder Champignoncremesuppe, überbacken mit einer Kruste aus Cornflakes mit Butter. Fett und Zucker tun immer gut. In vielen Kulturen gibt es Süßes zum Trost. In islamischen Ländern kommt Honig satt ins Essen, in China kriegen die Gäste eine Süßigkeit auf den Nachhauseweg, in Großbritannien gehören Kekse seit Jahrhunderten zur Grundausstattung.

Ursprünglich hatte der Leichenschmaus auch ganz praktische Gründe: Menschen, die von weither angereist kamen, wurden versorgt, bevor sie sich wieder auf die mühsame Heimreise machten. So wie die Ägypter dem Leichnam selbst was zu essen mit auf den Weg ins Jenseits gaben. Massenhaft Obstkörbe und Wein, Braten und Brot bekam Tutanchamun als Proviant.

Gelage mit Ochsen und Schwänen

Außerdem ging es darum, den Toten zu ehren und seinen Status zur Schau zu stellen. Im Mittelalter wurden riesige Gelage gefeiert, kamen Ochsen und Eber, Pfauen und Schwäne auf den Tisch. Für viele Familien war es das teuerste Mahl ihres Lebens, für das sie sogar Schulden machten.

Ein bisschen mehr Großzügigkeit als Dankeschön für die, die gekommen sind, würde man sich auch heute manchmal wünschen. Oder so schöne Traditionen wie die thailändische: Dort stellen Sterbende Kochbücher mit ihren Lieblingsrezepten für die Trauergäste zusammen.

Der schillernde Modedesigner Rudolph Mooshammer lud Obdachlose nach seiner Beerdigung zu Leberkäs, Kartoffelsalat und Weißbier in den Münchener Unionsbräu ein. Ja, der kluge Tote baut vor. Und plant schon zu Lebzeiten das Wie und Wo und Was seines Leichenschmauses selber. Schließlich ist es sein letztes Fest. Und „Death is no Excuse“ (Der Tod ist keine Entschuldigung), so der Titel eines Kochbuchs aus den Südstaaten, wo es besonders üppig zugeht.

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