zum Hauptinhalt
Kinder

© picture-alliance

Kindergeburtstag: Vorsicht! Kalter Hund

Das Kind hat Geburtstag und die Eltern drehen durch. Das Essen muss bunt, lecker und süß sein. Und am Ende sind alle fix und fertig.

Arme Mama“, sagt das Kind, das bald sechs wird. „Du hast nicht mehr lange zu leben.“

Aber warum denn, mein Schatz, warum?

„Du hast doch in zwei Wochen Geburtstag! Dann bist du noch älter!“

Schluck. Die Mutter verfällt ins Grübeln. Spürt denn bereits ein Kindergartenkind, wenn es über Geburtstage und das Vergehen der Zeit nachdenkt, jenen Hauch der Melancholie, der sich mit den Jahren zum Windstoß auswächst? Dass Zwanzigjährige den Verlust ihrer Jugend betrauern, davon hat man gehört, dass Dreißig-, Vierzig-, Fünfzigjährige am runden Geburtstag in Krisen stürzen, ist geradezu normal. Noch Ältere bekommen feuchte Augen beim Duft frischen Apfelkompotts, wie ihn die Mutter immer an ihrem Geburtstag zu den Kartoffelpuffern kochte. Aber Fünfjährige?

Fünfjährige kennen keine Melancholie, jedenfalls nicht, was ihren eigenen Geburtstag angeht. Kindergeburtstag, das ist Lebensbejahung, von keinem Zweifel angekränkelt. Sämtliche Träume von Glück, Macht, Reichtum und Sinnesgenuss projizieren sich auf diesen Tag. „An meinem Geburtstag bin ich der Chef!“ Aufs Essen bezogen: Es wird gegessen, was ich will, wie viel ich will und wie ich will! Das ist gleichbedeutend mit: Sämtliche Regeln der Tischkultur sind außer Kraft gesetzt. Es geht hier nicht um Haute Cuisine, um hochwertige Zutaten oder sensibel aufeinander abgestimmte Gewürznuancen. Viel, bunt, lecker! Das reicht.

Das Kind möchte am Tag seiner Geburtstagsfeier König sein. Familienmitglieder und Freunde sollen ihm mit Bergen von Geschenken die Ehre erweisen. Das Essen ist nicht die Hauptsache, aber ohne Essen wäre alles nichts: Der Kindergeburtstag ist die Urform aller späteren Partys. Die fleißigen Bienen im königlichen Küchentrakt haben ein Festmahl vorbereitet, auf der Tafel türmen sich Schokokuchen mit Smarties drauf, Muffins in Gelb, Braun und Schwarz, warme, weiche Waffeln, Bonbons und Lollis in allen Farben. Und in der Mitte thront eine riesige grüne Fußballfeldtorte mit Gummibärchen-Spielern.

Wusch, der König hat die Kerzen ausgepustet, Fanfaren erklingen, es gibt Fanta und Cola bis zum Abwinken, Pizza, Pommes, Würstchen, auch gerne alles durcheinander, unerschöpflich sind die Vorräte in diesem Königreich, das eigentlich ein Schlaraffenland ist, ein Schwelgen ist das, ein Schlingen und Schlecken, ein Schnaufen und Schmatzen! Kein Zeremonienmeister soll sich erfrechen, zügelnde Worte zu sprechen, etwa „esst nicht so viel Schokolade“ oder „nimm nicht so riesige Bissen“, fort mit allen Vorschriften und Einschränkungen, heute ist mein Geburtstag, heute bin ich ich – in Potenz! Und ich darf mit dem Essen spielen: beim Wettkampf, wer am schnellsten mit Messer und Gabel aufwendig umwickelte Schokoladenstücke auspackt, oder beim Eierlauf, platsch.

Kindergeburtstage könnten, wenn es nach dem Willen der Kinder ginge, monatlich stattfinden. Dann würde sich zwar das Altern beschleunigen, aber wen kümmert’s? Die Vorstellungen von Zeit sind noch so vage. Sagte nicht das Kind, das bald sechs wird, über seine liebe Großmutter: „Oma Tensbüttel war früher noch ein Affe“? Es hält es also für möglich, dass sich alle Stadien der menschlichen Evolution innerhalb einer Zeitspanne von 87 Geburtstagen vollzogen haben könnten. Oma Tensbüttel hätte demnach ihre frühen Geburtstage als Affenkind mit Bananen begangen und an ihrem 18. Geburtstag die erste gegrillte Mammutkeule genossen. Für einen Fünfjährigen alles im Bereich des Möglichen.

Der Kleine also wird bald sechs, und die Eltern, die nicht mehr lange zu leben haben, müssen sich entscheiden. Wollen sie diesmal Supereltern, Faulpelz-Eltern oder Normalo-Eltern sein? Es gibt wohl kaum einen Anlass, den man sich so einfach oder auch so schwer machen kann. Die Faulpelz-Mutter hat sich vielleicht bei früheren Feiern verausgabt. Diesmal will sie „bloß keinen Stress“: Sie geht mit den Kindern ins Kino, kauft jedem eine Tüte dampfendes Popcorn, ruht sich während des Films von dieser Anstrengung aus, und schickt die Kinder anschließend mit Faulpelz-Papa zu McDonald’s. Zwischen Cheeseburger und Big Mac wird schon jeder glücklich werden, und das Geburtstagskind bekommt eine Pappkrone auf. Prima!

Andere Faulpelz-Eltern laden ihre kleinen Gäste auf den Indoor-Spielplatz ein; dort sind Pommes und rosa Cremetorte im Preis inbegriffen, vorformulierte Einladungskarten gibt es stoßweise beim Vorgespräch. Kein Stress? Weit gefehlt. Der Lärmpegel ist schwer zu ertragen, die Kinder stoßen mit den Köpfen zusammen, müssen getröstet werden, und Pflaster haben die Faulpelz-Eltern vergessen. Aber immerhin, kochen oder denken muss man nicht, die Verantwortung liegt beim Personal.

Für das obligatorische Geburtstagsfrühstück im Kindergarten oder in der Schule kaufen Faulpelz-Mutter und -Vater neben den Brötchen und der Geflügelsalami (keine Salami mit Schweinefleisch wegen der muslimischen Kinder!) eine Benjamin-Blümchen-Torte aus dem Tiefkühlfach, auch andere leckere Kuchen gibt es tiefgekühlt, und seien wir mal ehrlich, merken die Kinder den Unterschied? Und, noch mal ehrlich: Geht es nicht eh nur um die Geschenke?

Die Supermutter dagegen will ein unvergessliches Erlebnis schaffen. Sie wälzt Ratgeber und Internetseiten, entscheidet sich für die „Supercoole Piratenparty“, bestellt im Internet die dazu passenden Servietten, Becher und Tischdecken im Palmendesign, bastelt Schatztruhen, in denen Golddukaten mit Karamellfüllung auf ihre Entdecker warten, backt einen Piratenkuchen mit Augenbinde, schneidet Kokosnüsse auf und schmückt die Würstchen mit Serviettensegeln.

Normalo-Mütter wurschteln sich so durch. Sie backen die erste Torte mit viel Liebe und Zuckerschrift, die zweite mit einer Backmischung und holen die dritte aus dem Tiefkühlfach. Der Normalo-Papa knetet dazu einen Pizzateig und schnippelt Paprika, Mozzarella und Tomaten, damit können sich die Kinder dann ihre Pizza-Gesichter selbst belegen. Vorher oder hinterher gibt es noch ein bisschen Fremdprogramm, sagen wir im Kindermuseum, im Ökowerk, im Zoo. In Berlin bietet fast jede Institution Kindergeburtstage an, von der Bundesanstalt für Materialprüfung vielleicht abgesehen.

Alle drei Elternpaare sinken hinterher erschöpft in die Kissen. Und allen dreien kann passieren, dass das königliche Geburtstagskind von einem Knappen beleidigt, von einer Zofe im Spiel übertrumpft wird oder dass es von der Schokotorte nicht das schönste Stück bekommt – und dann steht der König, die Königin weinend in der Ecke, um sie herum Kuchenkrümel, in ihnen ein überfüllter Magen und bittere Enttäuschung: Das sollte doch mein großer Tag sein, und nun das! Höchste Erwartungen, brutal zerstört: An jedem Geburtstag lernt ein Kind, wie groß die Kluft ist, die sich zwischen Fantasie und Wirklichkeit auftun kann. Was es nicht daran hindert, sich mit ebenso großer Inbrunst auf den nächsten Geburtstag zu freuen.

Woran es sich später noch erinnern wird? Wer weiß. Die Mutter jedenfalls erinnert sich an ein Tier, das in den Sechzigern und Siebzigern gerne zum Kindergeburtstag gereicht wurde: den Kalten Hund, auch „Kalte Schnauze“ genannt, jenen sündig süßen, sündig fetten geschichteten Kastenkuchen aus Butterkeksen und Schoko-Kokosfett-Creme, der schon nach wenigen Bissen ein Gefühl der Übelkeit hinterließ – und der neuerdings wieder in Szenecafés angeboten wird. Damals wäre es undenkbar gewesen, den Kindergeburtstag professionellen Partymachern zu überlassen. Es wurde zu Hause gefeiert, und die Mütter standen nicht unter dem Druck, jedem Gast ein Tütchen mit Gummibärchen und Gelstiften mit auf den Weg zu geben, als wäre er auch ein Geburtstagskind.

Aber vielleicht sind all diese Erinnerungen auch falsch? Vielleicht waren die kleinen Gäste auch damals schon so ungezogen, sich über jeden aus ihrer Sicht unattraktiven Preis lautstark zu beschweren? Mag sein. Wenn man nicht mehr lange zu leben hat, lässt das Gedächtnis nach.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false