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Über ihre Erfahrungen hat Molly Birnbaum ein Buch geschrieben: „Der Geruch der Erinnerung“ (Verlag Kein & Aber, 368 Seiten, 19,90 Euro). Sie bloggt auf ihrer Seite mollysmadeleine.blogspot.com Foto: Andrea Artz/laif

© LAIF

Koch ohne Geruchssinn: Immer der Nase nach

Molly Birnbaum hatte einen Traum: Sie wollte eine richtig gute Köchin werden. Dann kam der Unfall. Sie verlor den Geruchssinn. Bis sie ihren neuen Freund in den Arm nahm.

Als Erstes riecht Molly Birnbaum heute frische Pfefferminze. Ein ganzes Büschel davon steht in einem Glas Wasser auf dem Wohnzimmertisch. Dann setzt sie Kaffee auf, und dessen warmes Röstaroma beginnt sich mit dem leicht staubigen Geruch ihrer winzigen Bostoner Altbauwohnung zu vermischen. Es ist Montag, 7 Uhr in der Früh, ein ganz normaler Arbeitstag, und Birnbaum erwarten noch viele Stunden voller Düfte, die ihr nicht entgehen werden.

Molly Birnbaum hat ein spezielles Verhältnis zu ihrer Nase. Der Grund dafür liegt sechs Jahre zurück. An einem himmelblauen Sommermorgen wurde sie beim Joggen von einem Auto angefahren. Schädelfraktur, doppelter Beckenbruch, Bänderriss im linken Knie. Damals war sie 22 und arbeitete in einem preisgekrönten Bistro in Cambridge, Massachusetts, wo sie sich auf ihre Ausbildung an der angesehensten Kochschule des Landes vorbereitete, dem Culinary Institute of America.

Birnbaum hatte sich im Craigie Street Bistrot als Tellerwäscherin verdingt, um in jedem freien Moment den Köchen zuzuschauen. Sie säuberte aber auch selbst kistenweise Waldpilze, schälte Rote Bete, hackte Kräuter. Sie lernte, syrischen Oregano und Anisysop mit geschlossenen Augen zu erkennen und eine Crème Brûlée allein dank ihrer Nase vorm traurigen Schicksal einer verbrannten Crème zu bewahren.

Dann die Sekundenbruchteile auf der Kreuzung – und es war aus damit. Was der Unfall sie gekostet hatte, merkte Birnbaum erst Wochen danach bei einem Stück frisch gebackenem Apfelkuchen. Weg waren die Aromen von Zucker, Zimt, Zitrone und die samtige Buttrigkeit des Teigs. Der Kuchen war zu einer geschmacklosen warmen Masse geworden. Birnbaum konnte nichts mehr riechen. Der Traum, Spitzenköchin zu werden, war nur noch – ein Traum.

Molly Birnbaum streicht über die Pfefferminzblätter. Sie sitzt am Tisch und erzählt, wie sie ihren Geruchssinn verlor und wiederfand – so anschaulich und unaufgeregt wie sie dies auch in ihrem Buch „Der Geruch der Erinnerung“ tut.

Birnbaum ist eine feingliedrige kleine Person. Ihr dichtes langes Haar ist an diesem Morgen noch nass vom Duschen. Die Brille verleiht ihr etwas Schüchternes und Gelehrtes. Es fällt schwer, sich diese Frau in der aggressiven Hektik und der Hitze einer Restaurantküche vorzustellen.

„Nichts zu riechen ist, wie in einer Welt ohne Farben zu leben“, sagt Birnbaum.

Im Hintergrund verzieht sich ihr Freund Matt mit seinem Computer ins Schlafzimmer, um nicht zu stören. „Es ist nicht bloß das Essen, das nicht mehr schmeckt: Es werden auch keine Erinnerungen und Gefühle mehr hervorgerufen, die mit bestimmten Gerüchen verbunden sind.”

Salsa und Tortilla-Chips zum Beispiel. Vor dem Unfall genügte ein Hauch Tomaten-Knoblauch-Chili, und die erwachsene Molly kuschelte sich in Gedanken wieder an ihren Vater, mit dem sie früher auf dem Sofa James-Bond-Filme angeschaut hatte. Nun waren solche Erinnerungen nur noch verdorrte Fakten.

Matt trippelt auf Zehenspitzen über den knarrenden Holzboden zur Kochnische und sucht nach etwas in einer Schublade. Er trägt ein T-Shirt, auf dem das Logo von Tabasco-Sauce prangt – damit hat es eine besondere Bewandtnis.

Molly Birnbaum hatte zwar ihren Geruchssinn verloren, nicht aber ihren Geschmackssinn. Die fünf Geschmacksrichtungen süß, sauer, salzig, bitter und umami („herzhaft“ wie reife Tomaten, Käse oder Sojasauce) nehmen wir über die Geschmacksknospen auf unserer Zunge wahr. Das Salz in einem Steak konnte Birnbaum deshalb immer noch schmecken, obgleich sich das Fleisch in ihrem Mund sonst nicht von einem Stück Karton unterschied. Speisen und Getränke entfalten ihr Aroma nämlich erst durch die Kombination von Geschmack und Geruch. Erst wenn neben den Geschmacksknospen durch die Geruchsmoleküle auch die Geruchsrezeptoren aktiviert werden, verwandelt sich ein brauner Klumpen in Mutters wunderbaren Hackbraten.

Auch die Schärfe von Tabasco konnte Molly Birnbaum noch spüren. Nur um wenigstens das heiße Kribbeln zu empfinden, das Pfeffriges und stark Gewürztes in Mund und Rachen hinterlassen, konsumierte sie die Sauce zu allem, in Dezilitern statt in Spritzern. Matts Tabasco-T-Shirt ist also ein Symbol der Solidarität. Und eine Liebeserklärung.

Molly und Matt begegneten sich in New York. Dorthin zog Molly Birnbaum, nachdem die schlimmsten Verletzungen verheilt waren. Sie suchte eine Arbeitsstelle – und sich selber. Beides erwies sich als schwierig. Schließlich entschied sie sich für ein weiterführendes Studium in Journalismus. Matt hatte sich da ebenfalls eingeschrieben. Sie küssten sich zum ersten Mal in den Gängen der Subway am Times Square. Und zum ersten Mal nahm Birnbaum wieder den Geruch eines anderen Menschen wahr.

„Es war ein Schock“, erinnert sie sich. Sie roch plötzlich Matts Aftershave, sie roch seine Haut, sie roch seinen Zimtkaugummi. „Ich weiß nicht, ob das dazu führte, dass ich mich in ihn verliebte“, sagt sie ein wenig verlegen, und Matt an seinem Computer kichert leise. „Auf jeden Fall war dies der erste Schritt aus meiner Depression.“

Danach kam das Wieder-riechen-Können in Wellen: Abfall stank, wie es sich gehört. Und bei einem Spaziergang durch Chinatown sog Birnbaum gierig die Duftwolken von gefälschten Gucci-Handtaschen, rohem Fisch, frittierten Teigbällchen, Orangenschalen und Urin ein. Manchmal vergingen Tage, ohne dass sie einen neuen Geruch entdeckte, dann wieder wurde ihre Nase geradezu überwältigt von Sinneseindrücken.

Schon davor waren gewisse Gerüche wie aus dem Nichts wiederaufgetaucht. Rosmarin. Schokolade. Gurken. Außerdem hatte Molly Birnbaum angefangen, Experten über ihren Zustand zu befragen – Dutzende von Neurologen, Parfümeure und Leute, die dafür sorgen, dass eine Tiefkühlpizza nach Pizza schmeckt. „Das nahm mir ein wenig von meiner Hilflosigkeit“, sagt sie.

Speiseeis als Genesungsfaktor

Anosmie lautet der Fachbegriff für das Fehlen oder den Verlust des Geruchsinns. Die häufigsten Ursachen dafür sind Schädelverletzungen, Virusinfektionen und Komplikationen nach einer Operation. Die überwiegende Mehrheit der Anosmiker bleibt anosmisch. Insofern ist Molly Birnbaums Fall ein mittleres medizinsches Wunder. Möglich, dass ihre Jugend die Regeneration ihrer Geruchsnerven vereinfacht hat. Möglich auch, dass Birnbaums selbst verschriebene Therapie, die sie ihre Nase beharrlich überall hineinstecken ließ, bei der Heilung half.

Speiseeis spielte bei der Genesung eine wesentliche Rolle. „Ohne Geruch bringen nur die Konsistenz, die Temperatur und das Aussehen Abwechslung ins Essen“, sagt sie. „Ich liebte die süße kalte Geschmeidigkeit von Eis, besonders, wenn sich darin noch ganze Früchte oder Keksstücke oder Krokant befanden.“ Weltmeister dieser Sorte Eis ist die Firma Ben & Jerry’s. „Chunky Monkey“ etwa besteht aus Bananen-Glacé und ist gespickt mit Schokoladestückchen und Walnüssen. Die Ideen für solche extravaganten Kreationen stammen vom Ben in Ben & Jerry’s. Auch mit ihm hat Birnbaum im Lauf ihrer Geruchsrecherchen telefoniert. Und siehe da: Ben Cohen ist ebenfalls Anosmiker, so das Fachwort für den Verlust des Geruchssinns. Deshalb all die knackigen, saftigen, schmelzenden Zutaten in etwas, das für Gourmets ohne Geruchssinn sonst nach eisigem Nichts schmecken – und sie verzweifeln lassen würde.

Molly Birnbaum mag Eis immer noch. Ebenso wie scharfe Speisen. „Nicht alle Vorlieben, die ich mir während meiner geruchslosen Zeit zugelegt habe, sind verschwunden.“ Nur dass sie Geruch und Geschmack der Dinge nun bewusst doppelt und dreifach intensiv wahrnimmt. „Diese Erfahrung hat alle meine Sinne geschärft: Ich bin insgesamt viel aufmerksamer geworden. Ich habe die Wichtigkeit des Jetzt entdeckt.“

Die Gegenwart sieht für Birnbaum und ihren Freund so aus: Matt studiert an der prestigeträchtigen John F. Kennedy School for Government in Harvard, und sie selbst arbeitet für einen Kochbuchverlag in einem Vorort von Boston. „Ich wollte Köchin werden, weil ich es wunderbar finde, wie Essen Menschen zusammenbringt und einem Fenster in andere Kulturen öffnet“, sagt sie. „Aber im Lauf meiner Rekonvaleszenz habe ich gemerkt, dass auch die Sprache alle Sinne ansprechen kann.“ Was ihr damit vorschwebt, zeigt sie auf ihrem Blog. In diesem kulinarischen Tagebuch philosophiert sie über Gaumen- und andere Freuden, schreibt über Genuss und Rezepte.

Privat kocht Birnbaum auch wieder. Schließlich muss sie keine Angst mehr haben, sich selber oder andere zu vergiften, weil ihr der Geruch schlecht gewordener Lebensmittel entgeht. Keine Angst mehr, das Haus in die Luft zu jagen, weil ihrer Nase das Gasleck nicht auffällt.

„Ich musste von vorn anfangen“, sagt sie beim Abschied. „Ich habe es als Chance betrachtet und viel Glück gehabt. Dafür werde ich immer dankbar sein.“ Bald wird Birnbaum in ihre Bürogarderobe schlüpfen, sich ins Auto setzen und durch Bostons Morgenluft zum Verlag fahren. Durch ein olfaktorisches Universum in Technicolor: waschpulvrig, kunstledrig, Dunkin’ Donuts und feuchter Beton von den umliegenden Baustellen.

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