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Gesellschaft: Mahlzeit!

Über Jahrzehnte waren die Brotbox und der Henkelmann ein wichtiges Accessoire der Arbeiterklasse. Sharon Lockhart macht nun die Mittagspause zum Kunstobjekt.

Märklin ist pleite, das gedruckte Buch wird vom E-Book bedrängt – und nun ist auch noch die Mittagspause vom Aussterben bedroht. Zumindest hat Sharon Lockhart das in den USA beobachtet. „Viele Leute haben Teilzeitjobs, da gibt’s gar keine Pause mehr, andere arbeiten durch, essen was am Schreibtisch oder im Auto.“ Jahrelang hat die Künstlerin sich mit dem Thema beschäftigt, hat Leute beobachtet – etwa die Arbeiter, die die Straße asphaltierten und eine Büchse Bohnen auf der Dampfwalze warm machten. In verschiedenen Fabriken hat die 44-Jährige recherchiert, darunter auch eine Sardinenfabrik (seitdem isst sie keine Sardinen mehr), hat Arbeiter nach ihren Gewohnheiten in den Pausenräumen gefragt, wo sie sitzen (meist auf demselben Platz), mit wem sie essen (meist mit denselben Leuten). Und wenn sie auf dem Highway Maut zahlen musste, hat sie sich beim Kassierer gleich erkundigt, wo er vespert: in einem unterirdischen Pausenraum.

Und das war nur die Vorarbeit. „Lunch Break“, so heißt ihr Projekt, dem die Wiener Secession gerade eine große Ausstellung widmete; ein Ausschnitt daraus ist jetzt in der Berliner Galerie neugerriemschneider zu sehen: Fotos und Filme zeigen Arbeiter einer Werft für Kriegsschiffe bei der Mittagspause sowie ihre Lunchboxen. Was Lockhart an dem Thema interessiert, ist weniger das Essen selbst, das auch für die Arbeiter offenbar gar nicht so im Mittelpunkt steht, eher nebenbei erledigt wird, als der Aspekt der Zeit: der Vergänglichkeit, der Dauer, der Zeit des Dazwischen. Diese halbe Stunde, jeden Mittag um halb zwölf, die den Arbeitern gehört – und die jeder auf seine Weise füllt.

Wie, das zeigt der Film „Lunch Break“, der jetzt auch auf der Berlinale lief: Im Zeitlupentempo fährt die Kamera durch einen schier endlosen Gang der Werft „Bath Iron Works“, an dessen Seiten die Arbeiter hocken, allein, zu zweit, zu dritt, ihr Butterbrot essen, Cola trinken, Zeitung lesen, Kreuzworträtsel lösen, reden, lachen, schlafen, Popcorn machen oder einfach nur für sich sind. Zehn Minuten hat die reale Kamerafahrt gedauert, die Lockhart auf 80 Minuten Film gedehnt hat. Der Gang hat etwas Archaisches, als wäre man im 19. Jahrhundert. Das hat nichts, gar nichts zu tun mit den Hightechfabriken von heute. Es ist schmutzig und laut, man meint das Öl zu riechen, überall offene Rohre, Schläuche, Blechabfalleimer. Eine industrielle Welt, die ebenso vom Verschwinden bedroht ist wie die Zeitung, die die Arbeiter lesen, der analoge 35-mm-Film, auf dem Lockhart gedreht hat – und die Mittagspause.

Gerade das hat Lockhart besonders gefallen: dass die Arbeiter sich nicht in die cleanen Pausenräume auf dem Gelände setzen und Kaffee aus dem Automaten ziehen, sondern lieber in den dreckigen Gang und bei den „independent businesses“ einkaufen. Das sind improvisierte, unerlaubte, aber geduldete Stände, die Arbeiter nebenher betreiben. „Die sind so kreativ! Wir leben ja in einer uniformen Welt der großen Konzerne, wo es so individuelle Sachen gar nicht gibt.“ Und hier steht der selbstgebastelte „Dirty Don’s Delicious Dogs“, wo es Würstchen, Eis, Kaffee, Sandwiches gibt und die Kollegen ihr Geld in einen Becher legen. Ihre leeren Limonadenbüchsen sammeln alle, von dem Pfandgeld wird dann ein Kühlschrank oder eine Mikrowelle gekauft.

In Bath, im neuenglischen Maine, hat Lockhart selber einen Teil ihrer Kindheit verbracht, ihre ganze Familie lebt dort, wo die Werft allgegenwärtig ist – wenn das Signal für den Feierabend ertönt, hört es die ganze Stadt. 6000 Arbeiter sind hier beschäftigt, jeder Stapellauf war ein Event. Und doch war es ein geheimnisvoller Ort. „Wir wussten nicht, was hinter den Toren war.“ Betreten verboten.

Daran hat sich wenig geändert. Um Einlass für ihr Projekt zu bekommen, schrieb Sharon Lockhart sich neun Monate lang die Finger wund. Vergeblich. „Aus Sicherheitsgründen …“ Am Ende war es die Gewerkschaft, die ihr die Tore öffnete. Morgens um halb acht saß die zierliche Künstlerin aus Los Angeles an einem Tisch mit dem Gewerkschaftsvorsitzenden, seinem Stellvertreter, dem Schatzmeister und dem Sekretär, alle mit Bauhelm auf dem Kopf, und breitete ihre Schätze aus: all die Bilder, die sie ein ganzes Jahr lang von Leuten beim Mittagessen gesammelt hatte, Gemälde, Skulpturen, Schnappschüsse, Zeitungsfotos, Illustrationen aus Büchern, auch Stillleben – und ein ganzes selbst gemachtes Buch voller Bilder von Arbeitern. Den Männern gefiel das Projekt sofort. Und das war’s: „Sie mussten nur sagen, dass sie es wollen. Die Geschäftsführung will keinen Ärger mit der Gewerkschaft.“

Geschichte, Industriegeschichte, amerikanische Geschichte, persönliche Geschichte: Man scheint sie riechen zu können beim Betrachten der Fotos und Filme, der Henkelmänner. Der eine oder andere Arbeiter in Bath hat noch eins der alten Modelle aus Blech, die sich früher alle auf der Werft selbst geschweißt haben. Die meisten aber tragen heute die Boxen aus Kunststoff, die wie Werkzeugkisten aussehen. Die nächste Generation hat „softpacks“, und für einige ist der Rucksack zur Lunchbox geworden.

Aber niemand hat einen so schönen wie Butch Greenleaf. Von dem hatten alle der Künstlerin vorgeschwärmt, „den musst du treffen, der hat den schönsten Korb, den du dir vorstellen kannst, selbst gemacht, der ist so begabt!“ Und wirklich, sagt Lockhart: „Er ist ein Künstler. Er hat den Baum gefällt, hat das Holz geplättet und geformt, hat den Messinggriff selbst gemacht. Und damit kommt er seit 20 Jahren zur Arbeit.“

Liebevoll und mit Respekt erzählt die Künstlerin von den Arbeitern, mit denen sie Monate verbracht hat. Und man glaubt sofort, dass diese sie behandelt haben wie eine Tochter. So haben die Arbeiter ihr auch bereitwillig ihre Lunchboxen zum Fotografieren ins Studio gebracht – samt Inhalt. Die Boxen werden zu Stillleben, Porträts – Selbstporträts. Denn Mike Dicky und Charlie Stubbs und wie sie alle heißen, haben die Henkelmänner sehr sorgfältig gepackt: so, dass ein möglichst treffendes Bild von ihnen herauskam.

Gary Gillpatrick zum Beispiel steckte eine Zigarettenschachtel rein, weil er doch immer raucht in der Pause, und eine von den Pillen, die er immer nimmt, und eine Zeitung, weil er immer liest (und die ausgerechnet an diesem Tag den Crash der Wallstreet verkündet). Oder die Box, die Willa Skelton ihrem Scott gepackt hat: Sandwiches, dick in Alufolie gewickelt, Cole Slaw, zwei Büchsen Limonade und kleine Zettelchen: „Heute Abend Hackbraten.“ „Um acht Uhr Zuckerpille nehmen.“

Jetzt bastelt die Künstlerin an der „Lunch Break Times“, die sie für die Arbeiter zusammenstellt und selbst auf der Werft verteilen wird. Das macht sie immer, wenn sie so lange mit Menschen zusammenarbeitet: ihnen etwas zurückgeben, das kein Kunstwerk sein soll, sondern ein Dankeschön. In der Zeitung wird Butch Greenleaf erzählen, wie er seinen Lunchkorb geflochten hat, Ehefrauen schreiben, was sie ihren Männern in die Box packen, es wird Berichte vom Streik im Jahr 2000 und viele ,viele Fotos geben – sie hat schließlich Hunderte geschossen, in dem Wissen, nie wieder einen so freien Zugang gewährt zu bekommen. Lockhart kichert. „Ich sehe sie schon vor mir, wie sie in der Lunch Break die ,Lunch Break Times’ lesen und sich amüsieren. Sie haben einen großartigen Sinn für Humor.“ Deswegen werden auch all die Witze, die sie sich in der Mittagspause erzählen, in der Zeitung stehen.

Lunch Break, Galerie neugerriemschneider, Linienstr. 155, bis 10. März

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