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Die Cirkel-Schwestern: Mathilde Möhring, 83, Maria Hatkemper, 81, Gisela Unnebrink, 80, Henni Richter, 85, sind vier Mal die Woche auf dem Markt (von links nach rechts).

© Susanne Kippenberger

Marktdynastie in Dorsten: Vier Damen am Stand

Rüben, Rettich, Rote Bete – die Cirkel-Schwestern sind über 80 Jahre alt und stehen Tag für Tag auf einem Markt im Ruhrgebiet. Gibt es da keine Rückenprobleme? „Na, hönnsemal!“

Der Herbst kommt, „die Äppelkes“ sind schon da. Zwölf verschiedene Sorten, Gala, Prime Rouge, Pink Lady, Delbar – Delbar?? „Die sind ein bisschen weicher“, erklärt Maria Hatkemper einer älteren Dame. „Es kann ja nicht jeder harte Äpfel essen.“ Delbar, nie gehört, meint die Kundin skeptisch. „War doch schon im Fernsehen! Schneeweiß ist der, den nehm’ ich immer für Pfannekuchen.“ Maria hat die Kundin weichgeklopft, ein Kilo lässt sie sich in eine Papiertüte packen.

„Esst mehr Obst“ steht darauf. Davon gibt’s am Stand der Cirkels reichlich. Zwetschgen, Blaubeeren, Reineclauden, Mirabellen, Flug-Mango, Papaya... Die wachsen nicht auf den Dorstener Bäumen, die holt Marias Neffe Andreas Unnebrink vom Essener Großmarkt. So wie Rüben, Rettich und Rote Bete, Wirsing, Weißkohl und Süßkartoffeln, Perlzwiebeln, Gemüsezwiebeln, Schalotten... Der Markt in Dorsten ist klein, der Stand groß.

„Tschüskes“, sagt Maria, 81 und „Nebenjobberin“ bei „Obst und Gemüse Heinrich Cirkel“. So wie ihre Schwestern Mathilde Möhring, 83, Henriette Richter – Henny –, die am Tag zuvor ihren 85. gefeiert hat, natürlich mit der ganzen Familie, und Andreas Unnebrinks Mutter Gisela, Gilla genannt. „Ich bin das Küken“, verkündet die 80-Jährige, in Kittel und Schürze, kokett.

Zupacken: Das haben die Schwestern von klein auf gelernt. Großmutter Josefine hat den Betrieb 1898 gegründet, den Vater Heinrich in den 20er Jahren übernahm. Als dieser 1966 starb, wurde Schwester Elisabeth, Lissy, seine Nachfolgerin. Sie hatte eine kaufmännische Ausbildung, war gern die Bestimmerin und als Einzige nicht verheiratet (das hat sie mit 60 nachgeholt). Außerdem, so ihre Schwestern beim Kaffeetrinken am Nachmittag, war Lissy ein Verkaufsgenie. Gisela haut sich auf die Schenkel – „vor allem Spargel, das hätten Sie mal erleben sollen!“ „Aber“, wirft Mathild’ ein, „die brauchte nicht auf- und abzuladen, da war sie die Chefin.“ Darauf noch eine Waffel mit Kirschen und Sahne. Sie essen, wie sie reden und arbeiten: energisch.

Jeden Wochentag außer mittwochs – da gehen sie seit jeher in die Kirche – stehen die Damen zusammen auf dem Markt. Das heißt, stehen tun sie eigentlich nie, sie rennen die ganze Zeit, vom Kunden zum Spinat zur Kasse, einer selbst gebauten Holzkiste aus der frühen Nachkriegszeit. Auf die Idee, sich mal hinzusetzen, kommen sie nicht, selbst den Kaffee schütten sie sich im Stehen in den Becher, Bärenmarke hinterher, schieben sich eine Tomate in den Mund, bevor sie wieder losrennen. Wirsing zupfen und Kisten schleppen, umfüllen und auffüllen, sie halten es ohne Arbeit nicht aus. Wenn der Familienbetrieb zur Karnevalszeit zehn Tage Ferien macht, scharren sie nach drei Tagen mit den Füßen, erzählt Andreas Unnebrink, der das Geschäft seit 1989 führt, unterstützt von seiner Schwester, und lacht.

Ob sie nicht Rückenprobleme haben? Hönnsemal, setzen die Schwestern wie so oft an, hönnsemal. Natürlich haben sie die. Sie haben auch schwere Krankheiten überstanden, „Gewächse im Unterleib“ und Depressionen, haben Kinder und Männer verloren, neue Hüften gekriegt und trotzdem weitergemacht. Mutter Johanna ist ja auch beim Arbeiten tot umgefallen, „mit dem Pittermesser in der Hand“, wie ihre Töchter stolz erzählen, beim Zwiebelschälen. Zehn Kinder hat sie, selber Einzelkind, innerhalb von 15 Jahren auf die Welt gebracht. Das Älteste, ein Junge, ist als Baby gestorben, der Jüngste, „unser Jüngelken“, wie Gisela sagt, „der wurde verwöhnt“, kam als junger Mann bei einem Unfall ums Leben.

Dass die Älteste dement ist, zerreißt den anderen das Herz

Die Cirkel-Schwestern: Mathilde Möhring, 83, Maria Hatkemper, 81, Gisela Unnebrink, 80, Henni Richter, 85, sind vier Mal die Woche auf dem Markt (von links nach rechts).
Die Cirkel-Schwestern: Mathilde Möhring, 83, Maria Hatkemper, 81, Gisela Unnebrink, 80, Henni Richter, 85, sind vier Mal die Woche auf dem Markt (von links nach rechts).

© Susanne Kippenberger

„Mein Gott, Heini, so viele Mädchen!“, rief ein Freund dem Vater einst zu. „Und alle gesund!“, erwiderte dieser nur, zufrieden. Von den acht Mädchen zog nur eine Einzige, Otti – Ottilie – in die Welt hinaus, an den Niederrhein. An diesem Nachmittag kommt die gelernte Schneiderin bei Gisela hereingeschneit – die meisten aus der Familie wohnen noch um den elterlichen Hof herum –, schüttelt jeder die Hand. Vorher hat sie noch Fini, mit 90 die Älteste, im Stift besucht. „Der geht’s nicht gut.“ Otti muss schlucken. „Nimmste mich nach Hause, hat sie gesagt und geweint.“ Das, sagen die Schwestern, zerreißt ihnen das Herz. „Unser Finni hat alles von früher gewusst.“

Auch Lissy ist nicht mehr bei sich, seit sie im vergangenen Jahr vom Fahrrad stürzte, jetzt wird sie im Elternhaus betreut. Die anderen radeln unverdrossen weiter. Die Jüngste, Hanni, ist schon tot, „die ist so still gestorben, wie sie gelebt hat“. Bei aller Ähnlichkeit im Aussehen, mit ihren kurzen Löckskes, unterscheiden sie sich deutlich im Temperament. Maria führt das Wort, Otti ist eher still, Henni hat immer Angst, dass sie was falsch macht, Mathild’ gilt als wild und temperamentvoll, „die ist überall dabei“, im Schützenverein und Kegelclub und der Leprastiftung. „Ich kann auch losbollern“, wirft Gisela ein.

Ob sie sich nicht mal streiten? Großes Hallo, aber wie! Auf Außenstehende mag der Ton zwischen ihnen auf dem Markt schon mal ruppig wirken, „aber dann drehsse dich um und es ist vergessen“. Beim Mittagessen, hat die Mutter immer gesagt, muss alles wieder verziehen sein. „Unsere Mutter war die Güte selbst, die war immer für Frieden“, von der Mutter hören sie gar nicht auf zu schwärmen, die hat ihnen sogar die Aufsätze geschrieben, „die war schlau. Und immer fröhlich!“

Ohne Frieden wäre es auch anstrengend geworden, denn beim Mittagessen traf sich die ganze Familie, die Schwestern, später auch ihre Kinder. Mathild’ ist früher vom Markt zurück und hat für alle gekocht. Auch donnerstagabends „kamen alle nach Omma“, da gab’s immer Pommes satt, selbst gemacht, versteht sich. Mit eigenen Kartoffeln hat der Betrieb schließlich begonnen.

Überhaupt spielte sich das ganze Leben am Küchentisch ab, dort hielt der Vater sogar mittags sein Nickerchen, den Kopf in die Hände gestützt, dann mussten die Kinder eine Viertelstunde lang still sein. Abends hat er Mundharmonika gespielt und alle haben dazu gesungen. „Auf dem Jahrmarkt zwischen grünen Bäumen“, setzt Mathild’ an. „Ritscherauwauwau.“ Henni schmeißt sich vor Lachen fast weg. „Achhönnsemal, wir haben doch so viel erlebt.“ Im Gesangsverein sind sie gewesen und im Kirchenchor, haben Weihnachten und Ostern gefeiert, Namenstag und Geburtstag feiern sie heute noch zusammen. „Irgendwas haben wir immer zu erzählen.“ Auch jetzt schnattern alle durcheinander.

Wie lang sie schon auf dem Markt stehe, wollte neulich eine Freundin von Maria wissen. 60 Jahre. Und wie lange sie das noch machen wolle? „Solange der Herrgott mich lässt.“

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