zum Hauptinhalt

Gesellschaft: Minestrone Maestro

Die meisten Dirigenten leben nur für die Musik. John Axelrod nicht: Er schreibt gerade einen weltweiten Restaurantführer. Ein Mittagessen beim Italiener

Im Alter von zehn Jahren fuhr der kleine John Axelrod aus Texas in ein Zeltlager zum Angeln. Er fischte wie die anderen Jungs eine Forelle aus dem Wasser, nahm sie, wie die anderen Jungs, nach Anleitung aus, er aß seinen Fisch wie die anderen Jungs den ihren – und bekam als einziger eine heftige Quecksilbervergiftung. Selbst nach einem Krankenhausaufenthalt wurde er den Fischgeschmack und -geruch nicht mehr los, fauler Fisch schien plötzlich in allen Lebensmitteln enthalten zu sein. John aß kaum noch, er nahm ab, seine Eltern schleiften ihn zu Ärzten, aber geholfen hat erst ein Hypnotiseur: „Der baute eine Brücke zwischen meinem Gehör und meinem Geschmackssinn. Er verband die positive Empfindung von Musik mit meinem gestörten Geschmack.“

In Texas war eine Mutter glücklich. John aß wieder. Aber er war jetzt Synästhetiker. Er schmeckte jetzt Musik. Er hatte, verdammt noch eins, schon wieder ein neues Talent.

John Neal Axelrod, der erst groß und dann Dirigent geworden ist und am Vorabend in der Düsseldorfer Tonhalle gastiert hat, sitzt jetzt bei einem Italiener auf der Sitzbank und wählt sich aus der Karte Melone mit Parmaschinken, gefolgt von Pasta mit Salbeisoße und einem Sorbet mit frischen Früchten. Dann empfiehlt er seinem Gegenüber einen Rosé, das macht ihm Spaß. Seine Reflexe in dieser Hinsicht sind hervorragend ausgebildet, wahrscheinlich stammen sie noch aus der Zeit, als er bei dem legendären kalifornischen Weingut Mondavi das Lehr-Institut leitete.

John Neal Axelrod ist kein normaler Dirigent. Dafür sind seine Interessen zu weit gespannt. Er schwenkt sein Glas, darin fährt ein Roter Karussell. „Delizioso“ ruft er dem Kellner über seinen Nero d’Avola hinweg zu. Mit dem Kellner hat er Freundschaft geschlossen, er war ja die letzten Abende schon hier, nach den Proben mit den Düsseldorfer Symphonikern. Das Restaurant liegt nicht weit weg von der Tonhalle. Und die Spontanfreundschaften mit italienischen Kellnern haben sich auf seinen zahllosen Dienstreisen über die Jahre derart ritualisiert, dass nun ein Buch in Planung ist: Die besten italienischen Restaurants der Welt. Die Empfehlungen sollen auch online abrufbar sein.

Axelrod ist Vielreisender, er spricht Französisch, Italienisch, Deutsch, er wird gerne beim Bäcker erkannt, bildet schnell Freundschaften, Nahrungsaufnahme ist eine internationale Tätigkeit.

Was sind unter diesen Umständen die Kriterien für „das beste“ italienische Restaurant?

Erstens, sagt er, traditionelle Rezepte in einfacher Zubereitung. Zweitens: frische Zutaten. Und drittens eine ausgeprägt familiäre Atmosphäre.

Letzteres ist nach Axelrod das Alleinstellungsmerkmal des italienischen Lokals. Denn die Atmosphäre bei den Italienern sei immer herzlich, der Koch kommt an den Tisch, die Kellner erkennen einen wieder. Selbst dann, wenn das Restaurant Sterne trägt. Nur dann, sagt Axelrod, ist es wirklich ein Original. Man erkenne sie sofort, diese ganz spezifische Kammermusik-Atmosphäre.

Axelrod hat in den Neunzigern für die Plattenfirma BMG gearbeitet und die Smashing Pumpkins und Tori Amos mit entdeckt. Er interessiert sich für Rock und Jazz und Filmmusik. Er hat beim Weingut Mondavi gearbeitet und mit 28 Jahren beschlossen, doch noch Dirigent zu werden. Er stand in Luzern dem Sinfonieorchester vor, ist inzwischen Chefdirigent des französischen Orchestre National des Pays de la Loire mit Wohnsitz in Südfrankreich und Straßburg, aber in den letzten zehn Jahren hat Axelrod 130 verschiedene Orchester dirigiert.

Das ist ein bisschen viel? Er kann alles erklären.

In der Welt klassischer Musik verlange das Publikum nach einem geradezu mönchischen Lebensstil, bedauert er. Aber Musiker sind Menschen. Mit Biografien.

Also seine Verbindung zum Jazz rühre zum Beispiel daher, dass ihn sein schwarzes Kindermädchen mit zu den Baptisten genommen habe, da wippte die ganze Gemeinde zu Soul und Jazz. Der Rock kam später, er spielte mit 21 in einer Band namens „The Rhythm Method“.

Er hat dann als Harvard-Student der Musik bei „Tommy's Lunch“ am Harvard Square in der Küche gearbeitet: Pizza. Pommes. Brötchen mit Eiersalat. Der Kaffee war umsonst. Der Reiz für ihn, sagt er, war aber nicht die Küche, sondern die irren Typen, die wegen des kostenlosen Kaffees vorbeikamen.

Aber die folgenreichste Unternehmung seiner Jugend war dann doch der Besuch einer exklusiven Swimming-Pool-Party in Houston, wo er Leonard Bernstein traf, der ihn, als er aus dem Wasser kletterte, in die Brustwarze kniff. Axelrod nahm später allen Mut zusammen und erzählte ihm, er wolle Dirigent werden. Ob er nicht bei ihm etwas lernen könne? Komm vorbei, sagte Bernstein. Mehrere Wochen lang besuchte er ihn, und Bernstein zeigte ihm, worauf es ankommt.

Im Rückblick, sagt Axelrod, mit seinen 44 Jahren über seiner Pasta sitzend, beschlich ihn genau drei Mal ihm Leben ein akutes, schicksalhaftes Gefühl: Bei einem Schulausflug nach Italien, da war er 15 und hörte das Schicksal „Europa“ flüstern. Bei einem Konzertbesuch von Bernstein, und dann in dessen Unterricht, beim Hören von Wagner. Wagner!

Und lebt er jetzt etwa nicht in Europa? Hat nicht Bernstein sein Leben beeinflusst? Trifft er nicht dauernd wieder auf die Spuren Wagners? Bernstein hat dem Teenager „einen Fluch und einen Segen zugleich“ mit auf den Weg gegeben: Er hat gesagt, „du wirst so sein wie ich.“

„Es gibt zwei Möglichkeiten, wie ein 16-Jähriger auf so etwas reagiert“, sagt Axelrod: „Entweder er macht es – oder er flüchtet.“ Axelrod war eingeschüchtert. Er lief weg. Er studierte. Er versuchte in dem Jahr bei Mondavi ein Curriculum aufzustellen, das Amerikanern die gesundheitsfördernden Aspekte von Wein näherbringen sollte. Dumm nur, dass er selber in diesem Jahr vier Kilo zugenommen hat.

Aber eines Abends war es wieder da, dieses schicksalhafte Gefühl. Er kam von einer Party nach Hause und hielt auf der Straße an, im Napa Valley. Wie schön es hier war! Wie still. Als er weiterfuhr, spielten sie im Radio Wagner. Axelrod kündigte seinen Job am nächsten Tag, und machte sich daran, mit 28 Jahren doch noch Dirigent zu werden.

„Unsere Wahrnehmung wird ja von uns selbst regiert“, sagt er, und vielleicht sieht es nur deshalb für ihn so aus, als webten sich die losen Fäden seines Lebens langsam zu einem bedeutungsvollen Muster. Dabei weiß er selbst genau, dass die eigene Vorstellung auch täuschen kann.

In seiner von ihm selbst regierten Wahrnehmung hatte Axelrod sich zum Beispiel immer vorgestellt, das Anstoßen mit Weingläsern diene dazu, dem Wein den einzigen Sinn, den er neben Geschmack, Aussehen, Körper und Geruch nicht bedient, hinzuzufügen: Er bekommt nun auch noch eine Art von Klang. Bis Robert Mondavi persönlich – und der musste es wissen – ihm die wahre Bedeutung verriet: Es diente einst dazu, dass beim kräftigen Anstoßen mit den damaligen Zinn- oder Keramikhumpen die Weine ineinander schwappten, sich mischten, und das hieß: Wir beide trinken den gleichen Wein. Wir wollen uns nicht vergiften. Als aus den Humpen Gläser wurden, musste man nur etwas sanfter anstoßen, damit das Glas nicht brach.

Herr Axelrod, worum geht es also hier?

„Um die Erweiterung des Repertoires.“ In allen Belangen. Er nimmt einen Schluck Roten. „Wir sind wieder in einem Zeitalter des Kombinierens angekommen.“

Und Axelrod kombiniert. Er nimmt an Kochkursen teil. Er macht Pasta selbst. Er schmilzt für seine Tochter, die in Straßburg wohnt, Gorgonzola über Nudeln, er macht eine Bolognese mit verschiedenen Sorten Fleisch. Und sollte jemals etwas nach ihm benannt werden wie die „Tournedos alla Rossini“ nach dem italienischen Komponisten, dann wäre es sicher die „Axelrod Antipasto Pasta“: Er wirft nämlich liebend gerne die einzelnen Antipasti, gegrillte Zucchini, Auberginen, kleine Zwiebeln zusammen in eine Sauce. Ist die Summe im Topf größer als die einzelnen Zutaten, dann ist das ein Effekt, den er vom Orchester kennt.

Der Kellner hat inzwischen mehrmals lautlos den Tisch umkreist. Er hat die Teller ausgewechselt und wenn er angesprochen wurde, einen Scherz auf der Grenze zum Flirt gemacht. Er hat bedeutungsvoll gelächelt.

Vielleicht, sagt Axelrod, ist er als Alleinreisender ja auch besonders empfänglich für das zusätzliche Familien-Gefühl bei Italienern. Genau wie die anderen Diplomaten, Geschäftsreisende, Künstler, die irgendwann sein Buch lesen werden.

John Neal Axelrod dirigiert am 29. und 30. Januar das Konzerthausorchester Berlin. Es gibt Mozart, Beethoven, Haydn, Say.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false