zum Hauptinhalt
In indischen Großstädten wird die Lunchbox von daheim bis zum Arbeitsplatz transportiert.

© Reuters/Rafiqur Rahman

Mittagessen in Indien: Die Curry-Kuriere

Zum Mittag gibt’s in indischen Büros Essen von zu Hause. Die Dabbawallas bringen es durch die ganze Stadt. Von diesem Service wollen sogar große Logistikfirmen lernen.

Es gibt sie noch, die Oasen des Mittagessens. In Japan beispielsweise, wo man mittags Bento-Boxen öffnet. Diese Schachteln mit Schälchen, Schüsselchen und Eingewickeltem darin, die man bestellt oder die einem von der Familie mitgegeben werden. Bento ist Essen, Ritual und mehr. So schicken Schulmädchen den Jungen, die sie näher kennenlernen wollen, selbst zubereitete Boxen.

Dann ist da natürlich Mumbai, die Stadt, in der Mittagessen Logistik ist. Jeden Tag werden in der 18-Millionen-Stadt selbst gekochte Mittagessen an Büroschreibtische geliefert. Und nicht irgendein Imbiss, sondern ein ganzes Menü, aus Reis, Chutney, Gemüse, Frittiertem und Soßen. Gerichte, für die Frauen in den Vororten einen ganzen Vormittag in der Küche stehen. Damit ihre Ehemänner mittags in der Stadt kein Junkfood hinunterschlingen müssen.

In Mumbai liegen dann mitten auf dem Bürgersteig die Fahrräder alle durcheinander, dazwischen Tragegestelle aus Holz. Hell gekleidete Männer mit weißen Mützen wuseln herum. Auf dem Boden stehen Blechdosentürmchen, verschnürt, in Taschen oder Säcke verpackt, es müssen Hunderte sein. Die Männer stellen sie ab oder schnappen sich welche, sie wuchten sie auf Holztragen oder hängen sie auf ihre Räder. Dann stürzen sie sich auf den von den Dosentürmen schwankenden Fahrrädern in den ohrenbetäubenden Verkehr Mumbais, um die Boxen an ihre Adressaten zu liefern. Bis zu 200 000 täglich, montags bis samstags.

Das Essen wird zum Bahnhof gebracht, dort in überfüllten Zügen auf den Tragen balanciert, dann wieder ausgeladen. Es kommt erneut auf ein Fahrrad, und irgendwann stellt es einer der Weißbemützten in einem Büro ab. Eine, maximal zwei Stunden dauert das Ganze, das Essen ist dann meist noch warm. Am Nachmittag geht es den umgekehrten Weg zurück: Indische Männer bekommen nämlich nicht nur warmes selbst gekochtes Essen an den Schreibtisch, sie müssen nicht einmal die leeren Gefäße nach Hause tragen. Was in den überfüllten Pendlerzügen, die die meisten Bewohner von Mumbai benutzen müssen, allerdings auch schwer wäre.

Der tägliche Lieferpreis von zehn Rupien (12 europäische Cent) gilt für die ganze Boxreise, hin und zurück. Was günstig ist: Eine Mahlzeit außer Haus kostet mindestens 35 Rupien.

Und bei uns? Zum mittäglichen Auswärtsessen ist selten die nötige Muße, also schlingt man irgendwas am Imbiss hinunter oder rennt zum S-Bahnhof, um ein Fischbrötchen auf die Hand zu kaufen. Einer aktuellen Studie der TechnikerKrankenkasse zufolge hat jeder zweite deutsche Arbeitnehmer mittags keine Zeit, in Ruhe zu essen. Nur bei den Behörden ist es noch ein bisschen besser. Wer morgens ein Amt betritt, sieht im Fahrstuhl als erstes den Menüplan fürs Mittagessen. Noch bevor irgendjemand „Mahlzeit“ gesagt hat.

Dabei wäre Mittagessen so wichtig. Oder, wie es im Ayurveda heißt: Zwischen zehn und 14 Uhr ist am meisten „Pitta“ in der Atmosphäre, das Feuerelement, das unseren Stoffwechsel anheizt und uns eiweißhaltige Hülsenfrüchte und Samen verdauen lässt oder scharfe Gewürze, Chutneys und Rohkost. Weniger esoterisch, in den Worten der Krankenkassenstudie: Es geht darum, sich Zeit zu nehmen. Dass gesunde Ernährung Platz im Arbeitsalltag bekommt.

Die Dabbawallas, wie die 5000 Lieferanten in Mumbai heißen, sind längst weltberühmt. Vor allem wegen des ausgeklügelten Systems, das hinter den Lieferungen steckt. Die Zeichen, mit denen die Boxen, die Tiffins, markiert werden, wenn ein Dabbawalla sie von zu Hause abholt.

Die Wege, die sie nehmen, die Zwischenstationen, an denen sie sortiert und weitergereicht werden. Und das nahezu fehlerfrei. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mittagessen falsch geliefert wird, ist ungefähr so hoch, wie im Lotto zu gewinnen. Sie liegt bei eins zu 16 Millionen. Es gibt inzwischen unzählige Artikel und Studien über die Dabbawallas und ihre perfekte Logistik, die ganz ohne Computer auskommt. Der Chef des Lieferunternehmens Federal Express hat sie besucht, im vergangenen Jahr waren Leute von Audi in Mumbai.

Die Dabbawallas können, wie die Bento-Boxen, Liebesgeschichten in Gang bringen. Wie in dem wunderbaren Film „Lunchbox“, der kommende Woche in die Kinos kommt. Nur dass sich Mann und Frau anders als durch die Bento-Boxen an japanischen Schulen zufällig kennenlernen. Weil nämlich der unwahrscheinliche Fall eintritt und ein Dabbawalla eine Portion falsch zustellt. Das Mittagessen, das die junge Ila zubereitet hat. Die kocht jeden Morgen stundenlang für ihren Ehemann, der sie betrügt und den sie nun mit ihren Kochkünsten zurückgewinnen will. Mit scharf gewürzten Currys etwa oder Aloo Amritsari, frittierten Kartoffeln mit Ingwer-Knoblauchpaste.

Doch die Boxen landen nicht bei ihrem Mann, sondern am Schreibtisch eines Versicherungsangestellten, der Witwer ist und sich sein Essen täglich aus einem schlechten Restaurant liefern lassen muss. Verwundert öffnet er jeden Mittag die Lunchbox und stellt die vielen verschiedenen Schälchen vor sich hin, die eingelegten Auberginen, die verschieden gewürzten Soßen, das frisch gebackene Brot zum Auftunken. (Den ekligen Blumenkohl, der in seiner eigentlichen Box war, würgt unterdessen der treulose Ehemann hinunter.)

Indisches Essen sei ein Nebeneinander von Dingen, hat der Schriftsteller Vikram Chandra einmal gesagt. Zu einem Geschmack kann ein total entgegengesetzter kommen, und das sei genau der Reiz daran. Entgegengesetzt sind auch die Leben der beiden Filmfiguren. Sie ist jung und schön, er alt und illusionslos. Über die Boxen beginnen sie, kleine Zettelchen auszutauschen, später lange Briefe, und irgendwann finden sich zwei.

Wie kommt man vom Mittagessen auf die Liebe? Frage an den Regisseur Ritesh Batra über Skype. Es ist Mittag in Mumbai, im Hintergrund hört man Geschirr klappern und ein Baby schreien, Batras kleine Tochter. Ursprünglich, erzählt der Regisseur, habe er eine Dokumentation über die Dabbawallas machen wollen. Er kennt sie noch aus seiner Kindheit, sie kamen täglich, um das Essen abzuholen, das seine Mutter für den Vater zubereitete. Das „Heimatgefühl“ habe ihn an dem Dabbawalla-System fasziniert. Dass in einer anonymen Großstadt wie Mumbai mittags jeder das esse, was er von zu Hause gewöhnt sei. Sich vom Dabbawalla beliefern zu lassen und mit all den Gerichten mittags hinzusetzen – das sei auch eine Form, dem Druck des Arbeitslebens etwas entgegenzusetzen. Das Mittagessen ist der Moment, an dem selbst die Megacity kurz innehält.

Batra ist dann mit den Dabbawalla-Männern mitgeradelt, Dutzende Kilometer, durch Stau, Dreck, Verkehr. Einen Heidenrespekt hat er vor dieser Arbeit bekommen. Aber noch mehr hat ihn die Zuverlässigkeit des Systems fasziniert. Die Pünktlichkeit, das Lückenlose daran. Was wohl passiert, wenn einer einen Fehler macht, fragte er sich – und hatte eine Idee für einen Spielfilm. „Lunchbox“ ist gewissermaßen die Umkehrung von „Slumdog Millionaire“. Mann und Frau kommen nicht durch einen unwahrscheinlichen Glückstreffer zueinander, sondern durch einen ebenso unwahrscheinlichen Fehlgriff.

Und wie hält er selbst es mit dem Mittagessen? Nutzt er die Dabbawallas, wie schon sein Vater und Generationen von Männern vor ihm? Nein, antwortet Batra. Was aber nichts zu sagen habe, es gebe schließlich so viele indische Lebensmodelle wie Geschmäcker und Gewürze. Frauen, die arbeiten, und Frauen, die zu Hause sind.

Er selbst ist mit einer Mexikanerin verheiratet, die mit indischer Küche nicht viel zu tun hat. So sei eben er derjenige, der für sie kocht.

Zur Startseite