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Darf ich, oder magst du? Buttermilchhuhn, Kasseler mit Sauerkrautschaum, Klopse und Rote Bete im Restaurant „PeterPaul“.

© Thilo Rückeis

Sharing Food: Geteilte Freude: Wie Berlin den "Sharing Food"-Trend entdeckt

Hmm, was liegt da beim Tischnachbarn auf dem Teller? Jetzt ist Stibitzen endlich erwünscht. Berlin entdeckt das „Sharing Food“.

Wie im Wirtshaus sieht es im „PeterPaul“ wahrlich nicht aus. Die Decke schwarz, die Wände dunkel, die Bänke und Sessel in Cremetönen, die Spots so gesetzt, dass sie die Tische optimal ausleuchten. In diesem smarten Ambiente serviert man: deutsche Küche. Aber nicht in irgendeiner superneuen Spielart der Regionalküche nordischer Prägung, sondern nach Omas Rezepten. Sauerbraten, Matjes, Fisch in Panade, Rindsrouladen.

Womit Oma wohl fremdeln würde, sind die Portionen – oder besser: die Portiönchen. Vom Sauerbraten gibt es zwei, drei große Happen, von der Rinderroulade ein paar tranchierte Scheibchen, und wie alle anderen Gerichte liegt auch der Matjes in einem Schälchen. Die verteilt der Service kreuz und quer auf dem Tisch, alle können sich davon etwas nehmen. Auf Wiedersehen, Tellergericht.

„Ich bin ein großer Freund der deutschen Küche“, sagt David Canisius, der das Restaurant auf der Torstraße in Berlin-Mitte vor zehn Wochen eröffnet hat. Voll ist es jeden Abend, oft werden die Tische mehrfach besetzt. „Doch einheimische Küche ist immer: großer Teller, viel drauf.“ Damit war Canisius unzufrieden, denn das biete ihm zu wenig Auswahl. „Ich sitze dann vor der Karte und weiß nicht, was ich nehmen soll. Mehrere Gerichte schafft ja keiner. Oft geht dann schon vor der Bestellung die Diskussion los: Nimm du das und du das.“ Warum also nicht gleich die Portionen an den Probierwunsch anpassen?

New York, Paris, Kapstadt: Der Teilen-Trend existiert schon länger

Nach dem Prinzip „Make it mini“ servieren gerade viele Wirte ihr Essen. Das „Sharing Dish“ ist der Berliner Trend der Saison. Im „Panama“ in der Potsdamer Straße gibt’s Tartar vom Hohenloher Rind mit Shiitake oder Ceviche vom Wolfsbarsch mit Gurke und Avocado. Die Teller kommen in die Mitte, jeder kann sich auftun. Im „Le Faubourg“ lockert man die französische Menüfolge mit ein paar Vorspeisen zum Teilen. In Neukölln ist „Sharing“ schon fast wieder gegessen. Das „Industry Standard“ serviert „small plates to share and destroy“, wie es punkrockig auf der Website heißt – schon seit 2014. Da kann es vorkommen, dass man plötzlich fünf Teller gleichzeitig auf dem Tisch hat und nicht so genau weiß, ob man bei der Schweinezunge mit Tomaten und Bärlauch oder doch beim Blutkuchen mit Spiegelei und Apfel anfangen soll. Ob der Wein passt, ist ein bisschen Zufall.

International existiert der Teilen-Trend schon länger. In New York etwa ist der „Family Style“ in allen Spielarten der Küche zu finden. In Paris serviert der Spitzenkoch Joël Robuchon in seinem Lokal „L’Atelier“ 30 Luxus-Tapas, die man zu offenen Weinen auf Lederbarhockern isst. Der Schweizer Drei-Sterne-Koch Andreas Caminada hat mit dem „Igniv“ jeweils in St. Moritz und Bad Ragaz Fine-Dining-Restaurants eröffnet, in denen nur Sharing Dishes serviert werden.

Einen Tisch in Restaurants von Luke Dale-Roberts zu bekommen, ist nicht einfach, er gilt als bester Koch Afrikas. In seinem „Pot Luck Club“ in Kapstadt sind die Gerichte nach den fünf Geschmackssinnen sortiert. Ist der Tisch voller Teller, merkt man allerdings schnell, dass das Prinzip seine Grenzen hat: Wenn die Gerichte zu komplex werden, weil sie aus zu vielen einzelnen Komponenten bestehen, kann man sie schlecht teilen. Vielleicht hat ja jemand anderes die ganzen mit Yuzu infusionierten Wassermelonenstücke schon weggegabelt, sodass zu knusprigen Calamari nur noch die fermentierte Erdnuss-Chili-Sauce übrig ist. Die ganze Raffinesse der Komposition kann man dann natürlich gar nicht erfassen.

Woher die neue Lust am Teilen?

Nicht nur zum Kirchentag. Götterspeise mit Waldmeister glibbert grün.
Nicht nur zum Kirchentag. Götterspeise mit Waldmeister glibbert grün.

© Thilo Rückeis

Manche Gerichte wiederum schreien förmlich nach einer großen Runde. Zum Beispiel die frittierte Dorade im „Kin Dee“, dem neuen Thairestaurant der „Grill Royal“-Gruppe. Schon die Schönheit des Fischs verlangt nach Publikum. Im Ganzen frittiert kommt er mit geschwungener Rückenflosse in einem Meer aus golden leuchtender Gang-Som- Sauce aus der Küche. Sollte sich nun in der Runde in einem Anfall von Schwellenangst niemand finden, der den Fisch zer- und verteilt, springt der Service ein. „Ist erst einmal passiert“, sagt die Geschäftsführerin Dalad Kambhu. Sie ist in Bangkok mit Sharing Dishes aufgewachsen. „Wie in den meisten warmen Ländern kommt bei uns das Essen in die Mitte des Tisches, und jeder nimmt sich“, sagt die 30-Jährige. Die soziale Dimension des Essens denkt sie immer mit. Bevor sie Köchin wurde, war sie Gastgeberin eines Supperclubs in New York. Und da teilt man ja meist nicht nur die Gerichte, sondern auch die Tafel, an der man mit Leuten sitzt, die man vorher gar nicht kannte.

Im Grunde ist das Tellergericht ein europäischer Sonderweg, erklärt Maren Möhring. Sie ist Historikerin, forschte über fremdes Essen in Deutschland nach 1945. Der erste Schritt zur Individualisierung des Essens waren Messer und Gabel, dann erst kamen die Teller. „In der Frühen Neuzeit entstand diese wesentlich distanziertere Form der Essensaufnahme. Man fasst die Sachen nicht mehr mit der Hand an, man isst nicht mehr aus der gemeinsamen großen Schüssel, wie das in Europa üblich war und sich in bäuerlichen Schichten bis ins 19. Jahrhundert gehalten hat.“

Als das Restaurant Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich entstand, hat die zivilisierte Form des Essens Einzug gehalten, auch wenn es immer noch Gasthöfe gab, in denen gemeinsam aus der großen Schüssel gegessen wurde. „Das ist eher eine soziale Differenzierung als eine regionale. Die feinen Leute essen vom Teller mit Messer und Gabel, die Armen aus der gemeinsamen Schüssel. Die konnten sich das Geschirr gar nicht leisten.“

Bei "Muk-Bang" schaut man Leuten beim Essen zu

Aber jede neue Kulturtechnik will gelernt sein. Mit dem Aufkommen des Essbestecks wird das Essen auch Gegenstand von Benimmregeln. Wer sich was wie oft nimmt und wann man sich den Mund abzuputzen hat, das musste erst mal geklärt werden. Der eigene Teller kündet von einem neuen Zeitgeist. „Der Teller ist die materielle Basis für den sich in der Frühen Neuzeit entwickelnden Individualismus. Jeder will sein eigenes, man will nicht teilen. Die Teller wiederum sollen aber alle gleich sein, da soll es keine Bevorzugung geben, es gibt eine Demokratisierung der Teller. Jeder kriegt das Gleiche.“ Ein Schritt, der viel sage über das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft. „Das ist ein sozialer Ausbruch, eine zunehmende Distanzierung des Einzelnen vom Anderen, aber auch des Einzelnen vom eigenen Körper. Schmatzen etwa ist fortan verpönt“, erklärt Historikerin Maren Möhring.

Heute scheinen sich die Bedürfnisse zum Teil gedreht zu haben. Längst gibt es Portale wie „Eat With“, auf denen man sich zum gemeinsamen Essen verabreden kann. Wer zu schüchtern ist, sich mit vielen Fremden an den Tisch zu setzen oder gar für sie zu kochen, der kann sich mit „Muk-Bang“-Videos kulinarisch resozialisieren. Bei dem Trend aus Südkorea geht es darum, Leuten beim Essen zuzuschauen. Die verdrücken in der Regel eine ganze Menge, und das wollen auch eine ganze Menge Leute sehen. Den Videos der Youtuberin Keemi etwa folgen 500 000 Leute.

"Für das Konzept brauche ich zwei Köche weniger"

Woher die neue Lust am Teilen? Einerseits scheint es uns im Alltag an gemeinsamen Erlebnissen zu mangeln. Andererseits hat Essen an Bedeutung gewonnen, um seiner Persönlichkeit Ausdruck zu verliehen. Sonst würden ja nicht unzählige Millennials auf Instagram ihre Avocado-Toasts mit pochiertem Ei teilen. „Jeden Tag trifft man etwa 200 Entscheidungen, was man isst oder trinkt oder nicht. Das ist viel Spielraum, den man eben auch für Distinktionsgewinne nutzen kann“, sagt Maren Möhring.

Praktisch für den Wirt ist der Sharing-Trend sowieso. „Für das Konzept brauche ich zwei Köche weniger“, sagt David Canisius, der neben dem „PeterPaul“ auch das „Pantry“ in der Friedrichstraße betreibt. Die deutsche Küche basiert sehr auf Schmorgerichten, die kann man gut vorbereiten und dann im Service portionieren. Für Dalad Kambhu haben die geteilten Gerichte den Vorteil, dass sie viele Facetten ihrer Landesküche zeigen kann. Mit einer Vor- und Hauptspeise kann man nicht allzu viel erzählen.

Sharing für Fortgeschrittene gibt es übrigens im „African Kingdom“ in Moabit. Dort teilt man sich nämlich auch die Suppe. Traditionell tun das die Ghanaer ohne Löffel, sondern mit etwas geknetetem Fufu. Mit dem fermentierten Maisfladen fischt man sich die Ziegenfleischstückchen aus der scharfen Brühe, bis auch die von dem Teig aufgesogen ist. Und zwar reihum, immer abwechselnd. Das ist wirklich ein Gemeinschaftserlebnis.

Felix Denk

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