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Jamie-Lee tritt für Deutschland beim ESC an.

© dpa

Eurovision Song Contest: Der ESC stiftet kein bisschen Frieden

Am Samstag geht es in Stockholm mal wieder nicht um Pop. Viel entscheidender ist die Stimmungslage in Europa. Für die deutsche Kandidatin wird es schwer.

Im Zweifel frage man die, denen es nicht um den Spaß geht, sondern um viel Geld. Die Buchmacher und ihre zockenden Kunden wetten: Heute Abend in Stockholm geht es wieder einmal nicht um Pop. Es geht um Populismus, um Politik, um Stimmungen. Die dargebotene Kunst – nennen wir sie ruhig so, wo sie doch so vielen Menschen gefällt – interessiert in Wettbüros nur am Rande.

Wer wollte ernsthaft nach künstlerischen Kriterien einschätzen wollen, ob ein Lied wie „Goodbye“ (Serbien) bei Europas TV-Zuschauern und Juroren von Georgien bis Belarus besser ankommt als „I Stand“ (Tschechien), „Slow Down“ (Niederlande) oder gar „Say Yay!“ (Spanien)? Unmöglich. Zocker, die regelmäßig den Politik- und Wirtschaftsteil ihrer Zeitung studieren, sind besser beraten. Sie werden die Show deutlich gelassener verfolgen. Es durfte daher nicht überraschen, dass die Buchmacher der deutschen Sängerin Jamie-Lee am Freitag die geringsten Siegchancen aller 26 Finalteilnehmer einräumten. Es liegt nicht an ihrem Manga-Style, es liegt an Merkel. Und an Schäuble. Es liegt an der Korrektheit und protestantischen Strenge deutscher Spitzenvertreter, die auf Euro-Krisengipfeln für Recht und Ordnung sorgen.

Deutschland nimmt die Sorgen nicht ernst

Von außen betrachtet sieht es so aus: Die obersten Repräsentanten des wirtschaftlich potentesten Landes im geografischen Herzen des Kontinents stellen oft und gern Ansprüche – sei es auf einen Veto-Sitz im UN-Sicherheitsrat oder die Präsidentschaft der Zentralbank EZB. Zugleich reagieren diese Deutschen gleichgültig auf die extrem großen ökonomischen Probleme der Südländer. Auch die Sorgen der Osteuropäer vor Flüchtlingen und einem möglichen Aggressor aus Russland nehmen sie nicht ernst.

Diese Politiker sind von Deutschlands Bürgern legitimiert. Insofern ist es doch auch legitim, wenn ein paar hundert Millionen Europäer dieses Verhalten auf alle Deutschen übertragen und ein Ventil finden. Und sei es die vermeintlich profane Abstimmung über einen Gesangswettbewerb. Welches denn sonst? Der ESC wird von 180 Millionen Menschen weltweit verfolgt. Im vergangenen Jahr gab es tatsächlich zero Punkte für Germany. Du hast keine Chance, Jamie-Lee.

Der ESC ist ein Gesamtkunstwerk

Wetten, dass selbst Nato-Generalsekretär und OSZE-Beobachter spätestens dann zum ESC-Kanal zappen, sobald in Stockholm der letzte schrille Ton gesungen ist, um die Abstimmung zu verfolgen? Man soll das alles natürlich nicht zu ernst nehmen, aber Zuschauen kann schon helfen, um ein Gefühl für die Stimmungslage in Europa zu bekommen: Wie stehen Serben zu Kroaten? Wie stimmen Polen und Deutsche? Wie reagieren Russlands TV-Zuschauer auf den ukrainischen Beitrag „1944“, der das Schicksal der Krimtataren thematisiert? Obwohl politische Botschaften ja eigentlich streng verboten sind.

Der Wert dieses Wettbewerbs liegt nicht in der fragwürdigen Qualität der einzelnen Beiträge. Der ESC ist ein Gesamtkunstwerk. Er erfüllt wichtige Funktionen – als Ventil und Indikator für Stimmungen. Und er ist Schaufenster Europas: Menschen von China über Australien bis in die USA staunen über unseren bunten, lauten, queeren, emotionalen Kontinent. Sie sehen: Das ist ein Ort, wo man sich liebt, hasst und streitet wie in jeder Familie. Der ESC stiftet kein bisschen Frieden, da kann man den Organisatoren noch so viele Karlsmedaillen umhängen. Interessant ist er in jedem Fall.

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