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Eurovision Song Contest: Der Junge mit der Fiedel

Alexander Rybak verzauberte die Zuschauer – und Deutschland ging klanglos unter.

Ich mache weiter. Am Sonntag früh wusste ich, dass es wieder Hoffnung gibt, zumindest was den Eurovision Song Contest angeht. Wer diesen Wettstreit seit Jahren verfolgt, wer sich mühelos an Teilnehmer wie France Gall (die eine Wachspuppe besang), Sandie Shaw (die barfuß auf die Bühne hüpfte), Jimmy Logan (der zweimal siegte) oder unsere fragile Nicole (die wenigsten ein bisschen Frieden wollte) erinnert, der hatte in den letzten Jahren viel zu leiden. Denn seitdem sich im Osten Europas alle Naselang neue Länder zu Wort meldeten, verlor der Wettbewerb für die meisten Zuschauer in Berlin, Stockholm oder Paris an Reiz. Zu offenkundig schusterten sich die osteuropäischen Nationen Punkte zu, selbst wenn sie sich Jahre zuvor noch als Kriegsgegner gegenübergestanden hatten. Missmutig verfolgte ich das unwürdige Spektakel, bei dem fast immer Serbien, Russland, Lettland oder die Ukraine siegten, und verzichtete in diesem Jahr erstmals darauf, Freunde zum Schlagerabend mit Bowle und Käseigel einzuladen.

Und dann geschah, grell und flackernd in der Olimpiyski Arena ausgeleuchtet, was in die Kulturannalen als das Moskauer Wunder eingehen wird. Gewiss, zu einem richtigen Grand-Prix-Festival gehören immer Demütigungen und Erniedrigungen. Denn was wäre ein solcher Abend ohne läppische Moderationen, geschmacklose Gewänder, dünne Stimmen und 08/15-Lieder? 2009 wurde dieser Bedarf durchaus gedeckt: Für die ARD kommentierte der für den indisponierten Altmeister Peter Urban eingesprungene Tim Frühling so einfallslos, dass er seine wenigen ironischen Anklänge sicherheitshalber selbst als Ironie einstufte und ungebremst von „schmissiger Folklore“ und „feinstem Türk-Pop“ faselte. Das russische Moderationsduo tat, was alle Moderationsduos der letzten Jahre taten, und verstand sich nur als lärmender Einheizer des Saalpublikums. Und nicht zuletzt durfte man Auftritte erleben, die mit „bizarr“ höflich beschrieben wären: ein auf Frieden getrimmtes Gesangspaar aus Israel, das Sehnsucht nach Cindy & Bert weckte, eine einst erfolgreiche Sängerin aus Malta, die schweren Vorhangsstoff trug, „Waldo’s People“ aus Finnland, deren Darbietung den Sinn hatte, ohne Gewissensbisse Bier aus dem Kühlschrank zu holen, oder der Schreckensbeitrag aus der Ukraine, der vor allem aus schreienden Frauen im Hamsterrad bestand.

Ohne Geschmackskatastrophen kein Eurovision Song Contest, und doch zeichnete sich schon nach einer halben Stunde ab, dass Europa, rechtzeitig zu den kommenden Wahlen, Flagge zeigen und nicht nur auf belanglosen Instantpop aus der Retorte setzen wollte. Wo einst schrille Farben wie Türkis, Violett oder Kirschrot dominierten, regierte in Moskau das blütenreine Weiß, das ja auch, wie zu lesen stand, eine Renaissance als Autofarbe feiert. Weiße Hängerchen, weiße Kleider mit weißem Haar (Schweden!), weiße Männerhosen, weiße Halsschleifen (Bosnien-Herzegowina!) – voller Unbeflecktheit und Unschuld traten zahlreiche Interpreten nach vorne, als wollten sie in der technisch überbordenden Moskauer Inszenierung verdeutlichen, dass ein europäischer Neuanfang möglich sei.

Nicht selten von seriösen Streichern untermalt, fassten mehr und mehr Sänger Mut, den Einheitsbreitopf des Ethnopops zu verlassen. Frankreich schickte die große Patricia Kaas ins Rennen, die in der Michelle-Obama-Nachfolge Oberarm zeigte und ein immerhin mit dem achten Platz belohntes Chanson aus ganz alter Zeit zelebrierte. Oder die von Andrew Lloyd Webber persönlich am Klavier begleitete Jade Ewan aus Großbritannien, die dem seit Jahren mit schaudervollen Darbietungen aufwartenden Königreich neues Selbstvertrauen geben sollte. Oder Yohanna aus dem nicht minder gebeutelten Island, die, blond wie eine holländische Bäckerin, glutvoll ihr Liebeslied „Is it true?“ vortrug und zu Recht auf dem zweiten Platz landete.

Und der Sieger. Schon nach wenigen Wertungen zeichnete sich ab, dass der in seiner norwegischen Heimat als Wunderkind gehandelte Alexander Rybak die Konkurrenz um Längen abhängen würde. Adrett mit weißem Hemd und Weste gekleidet, lächelte er in die Kamera, traktierte kundig seine Geige, sang das charmante, von ihm selbst getextete und komponierte „Fairytale“, ließ Eltern vor dem Fernsehschirm darüber nachdenken, warum ihre eigenen Söhne so ganz anders geraten sind, und verzauberte die Menschen in Europa. Wie schön wird es 2010 sein, nach vierzehn Jahren den Song Contest wieder in Oslo zu begehen.

Ach ja ... und Deutschland? Irgendwann werden diejenigen, die für den deutschen Beitrag verantwortlich zeichnen, hoffentlich begreifen, dass mit künstlich aus dem Boden gestampften Kurzzeitformationen, die seelenlos simple, für zeitgemäß erachtete Popverschnitte anbieten, kein Blumentopf zu gewinnen ist. Einer alten Grand-Prix-Regel gemäß, verfügt nur der über Siegchancen, der mit Herz und Feuer den Eindruck vermittelt, es ginge an diesem Abend um seine eigenen Nöte. So gewannen einst Carola, Séverine, Céline Dion oder Dana International. Das mit Platz 20 gut bediente deutsche Pärchen „Alex Swings Oscar Sings!“ hingegen gab sich obercool und war belanglos. Covergirl Dita von Teese, deren Bekleidungsprobleme tagelang gehypt wurden, konnte da nichts retten. Deutschlands „Miss Kiss Kiss Bang“ muss als Alarmzeichen für die schwindende Rolle Deutschlands in Europa gedeutet werden.

Ich lasse mich davon nicht beirren und bin guten Mutes. Nächstes Jahr richte ich wieder eine Grand-Prix-Sause aus, angereichert mit Rakfisk, Kjøttkaker und reichlich Aquavit aus Norwegen. Ja, selbst vor dem geräucherten Schafskopf werde ich nicht zurückschrecken. Ehre, wem Ehre gebührt. 

Rainer Moritz

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