zum Hauptinhalt

Ex Telekom-Sprecher: Wie Christian Frommert gegen die Magersucht kämpft

Er isst abends, nur abends, Gemüse und Quark. Es ist der Höhepunkt des Tages. Die Ärzte sagen, er habe Glück. Viele sterben an ihrer Magersucht. Christian Frommert lebt.

Von Katrin Schulze

Für einen winzigen Moment lässt sich Christian Frommert gehen. Auf einmal lächelt er sein seltenes Lächeln, das zwei Grübchen im Gesicht freilegt. Er scheint den Gedanken zu genießen, den er sich sonst verbietet. Daran, wie es wohl wäre, in ein Stück Brot zu beißen. Knusprig, warm, frisch gebacken. Mit ein bisschen Butter. Und Salz vielleicht.

Aber nein!

Das warme, frische, knusprige Stück Brot passt nicht in seinen Plan. Es würde ihn in den Wahnsinn treiben. Nicht unbedingt der Biss an sich, sehr wohl das Danach. Dieses schlechte Gewissen, diese tausend Gedanken. Wie kann er die Kalorien wieder verbrennen? Wie lange muss er dafür Fahrrad fahren? Und wie sieht er wohl bald aus, wenn er sich das öfter genehmigt?

Jede Abweichung von der Gewohnheit, und sei es nur der Gedanke an einen Happen Brot, wirft Christian Frommert, Ex-Telekom-Sprecher, 46 Jahre alt, aus seiner Routine. Die braucht er nach seinem ureigenen Verständnis, um sich nicht zu gefährden. „Wenn du alles so machst wie immer, kann dir gar nichts passieren. Machst du aber irgendetwas anders als sonst, weißt du nie, wohin das führt“, sagt er. Vielleicht führt es gar dazu, dick zu werden. Frommerts persönlicher Horror.

Also hat er sich für ein sicheres Leben entschieden, durchritualisiert bis zum Umfallen. Er macht immer das Gleiche und, was noch viel wichtiger ist, er isst auch immer das Gleiche – an jedem Tag, in jeder Stadt. Dazu braucht es viel Organisationstalent, Disziplin und logistisches Geschick – Tugenden, ohne die Magersüchtige nicht auskommen. Christian Frommert ist außerdem ein Perfektionist, ein Besessener, im Job wie im Privatleben. Los geht das schon um 5 Uhr morgens.

Spätestens dann steigt er in seinem riesigen Haus in Bensheim bei Darmstadt auf sein Ergometer und strampelt und strampelt, anschließend macht er Gymnastik. Wenn andere noch schlafen, baut Christian Frommert schon Kalorien ab, die er gar nicht zu sich genommen hat. Er radelt dem Fett davon. Meistens dauert sein Sportprogramm drei Stunden, doch an diesem Tag kommt er nur auf anderthalb, weil er gleich in den Flieger nach Berlin steigen muss.

Anorexia nervosa heißt seine Krankheit im Fachjargon – wörtlich übersetzt „Appetitmangel“, wobei das nicht das Wesen der Krankheit trifft, schließlich handelt es sich um eine bewusste Unterdrückung des Appetits. Magersucht ist die einzige Sucht, bei der Betroffene nicht immer mehr wollen und brauchen, sondern immer weniger. Die Bundesregierung geht davon aus, dass mehr als jeder fünfte Jugendliche heutzutage Symptome einer Essstörung aufweist, meistens sind es Mädchen. Über die anderen Altersgruppen gibt es keine verlässlichen Zahlen, doch viele vermuten, dass es über die vergangenen 30 Jahre deutlich mehr geworden sind. Vor allem mehr Männer.

Auch sie achten inzwischen auf ihren Körper, sehen Bilder von durchtrainierten Models, von definierten Sixpacks und dicken Bizeps. So hat es Andreas Schnebel beobachtet, ein Psychologe, der dem Bundesfachverband Essstörungen vorsitzt. Typisch sei, dass bei Männern zum Hungern noch ein starker Bewegungsdrang, ein Fitnesswahn dazukomme, sagt er. Außerdem suchten sie sich im Schnitt viel später Hilfe als Frauen und „sind dann viel festgefahrener in ihrem Verhalten“. Noch perfekter in ihrer täglichen Routine.

Jeans aus der Mädchenabteilung

Christian Frommert hat den Termin in Berlin hinter sich gebracht, er hetzt mit seinem Rollkoffer zurück zum Flughafen Tegel. Gekleidet ganz in Schwarz. Das mache schlank, heißt es im Volksmund. Als ob er das nötig hätte. Seine Jeans kauft er in der Mädchenabteilung, und sie schlabbern trotzdem noch an den Beinen. Auch die Jacke wirkt ein bisschen zu groß für ihn. Darunter trägt er ein T-Shirt und einen dicken Pulli. Christian Frommert friert selbst in der warmen Flughafenhalle. Aber vermutlich würde er auch bei 40 Grad im Schatten frieren. Vorübergehend hilft ein Kaffee.

„Venti Latte Non Fat“, sagt Frommert und schiebt die goldene Kundenkarte im Café über den Tresen. Christian Frommert bestellt immer einen Venti Latte Non Fat, wenn er in einen Laden dieser Kette geht, was zuverlässig der Fall ist. Er spricht es deshalb mittlerweile in einem Wort aus: Ventilattenonfat. Die Servicekraft versteht ihn kaum. Noch ein Stück Kuchen dazu? Einen Brownie? Den Muffin dort? „Nein“, sagt Frommert. Auch etwas anderes will er immer noch nicht essen. Nur ein bisschen Zimt streut er sich auf den Ventilattenonfat.

Non Fat: sein Motto. Irgendwann hat Christian Frommert beschlossen, weitgehend fettfrei zu leben. Und er hat gemerkt: Wenn man so gut wie nichts isst, klappt das am besten. 2008 muss es gewesen sein. Da war er Sprecher für T-Mobile und das vom Unternehmen gesponserte Radteam. Doch Jahre nach dem Dopingfall Jan Ullrich interessierten sich nicht mehr all zu viele dafür, und sie interessierten sich auch nicht mehr für die Geschichten von Christian Frommert. Ein Mann, der sich nach eigener Aussage „über Arbeit definiert“, der immer „parat sein muss“, der nach Anerkennung lechzt.

Im Spätsommer 2008 bekommt er die noch einmal bei einem einwöchigen Sportlerevent in Marokko. Jedem Profi spendiert er da auf großer Bühne ein iPhone, was ihm viele Schulterklopfer und ein paar neue Freunde einbringt. Als er mit ihnen beim Abendessen sitzt, tischt er Geschichten auf. Davon, dass er schon gegessen habe oder ihm übel sei. Je nach Abend und Stimmung. Manchmal holt er sich alibimäßig einen kleinen Salat vom Buffet und stochert dann mit seiner Gabel darin rum. Es ist die Zeit, in der Frommert lügen lernt. Die meisten glauben ihm, er sieht ja auch frisch aus. Schlank und drahtig, aber nicht ungesund.

Christian Frommert hat viele Gesichter. Eines ist pausbäckig, denn er hat als junger Mann mal 140 Kilogramm gewogen. Ein anderes ist der krasse Gegensatz: eingefallen, faltig, fahl. So sieht er mit 39 Kilogramm aus. Es ist das Gewicht eines Grundschulkindes – nur verteilt es sich bei dem nicht auf 1,84 Meter. An seinem Tiefpunkt steht Frommert kurz vor einem Multiorganversagen. Ärzte sagen, dass er Glück hat und einen widerstandsfähigen Körper. Sie sagen auch, dass etwa zehn bis 15 Prozent der Patienten an ihrer Magersucht sterben. Frommert lebt.

Rund um die Uhr online, ständig verfügbar

Sein Gesicht ist heute immer noch etwas blass, fahl ist es nicht mehr. Auch seine dunklen Haare sind dichter und fester als vor einiger Zeit noch. Was er heute wiegt, weiß er nicht; er will es auch nicht wissen. Vielleicht sind es knapp 50 Kilogramm. Auf jeden Fall sieht er besser aus als auf den alten Aufnahmen, auch wenn er das nicht hören will. „Ich finde mich aufgeblasen“, sagt er. Und dass er vor einer Weile noch zufriedener mit seinem Aussehen war. Attraktivität ist nicht sein Lieblingsthema. Er möchte lernen, sich zu akzeptieren, aber im Moment scheint ihm noch wichtiger, dass er anderen gefällt. Es geht ihm dabei nicht um Liebe oder Sex. „Ich will irgendwann glauben, dass man mich um meiner selbst willen mag“, sagt er. „Und nicht ständig das Gefühl haben, dafür etwas leisten zu müssen.“

Und er leistet viel. Christian Frommert hat nie gelernt, Schluss zu machen. Bis heute ist der inzwischen selbstständige Kommunikationsberater für seine Kunden, zu denen unter anderem Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff und der Fußball-Bundesligist TSG Hoffenheim gehören, rund um die Uhr verfügbar. Aber auch für alle anderen. Er geht mit seinem iPad ins Bett und beantwortet morgens die ersten E-Mails, während er zu Hause auf seinem Ergometer strampelt.

Wer eine Anfrage per Mail an ihn sendet, bekommt automatisch diese Standardmail zurück: „Ich bitte um Nachsicht, dass ich aufgrund der Menge nicht alle Mails unmittelbar beantworten kann.“ Trotzdem antwortet Christian Frommert binnen 15 Minuten. Er kann nicht anders, „weil ich immer das Gefühl habe, die Leute würden dann denken, der funktioniert nicht“. An Sachen wie diesen arbeitet er immer montags mit seiner Therapeutin. Bald soll es ihm gelingen, nicht mehr „über jedes Stöckchen zu springen“, wie er es nennt. Einen ersten Erfolg hat er gerade erst erreicht: Zwei Wochen in Folge hat er sich nicht in seinen Facebook-Account eingeloggt. Das ist eine lange Zeit für einen Besessenen.

Der Wunsch nach Anerkennung und Perfektion treibt viele Magersüchtige an. Dem Psychologen Andreas Schnebel kommt Frommerts Verhalten typisch vor: „Oft sind Magersüchtige extrem gewissenhaft und leistungsorientiert, oft auch überdurchschnittlich intelligent.“ Schnebel wundert sich immer aufs Neue, wenn Patienten zu ihm kommen, die zwar völlig abgemagert sind, aber trotzdem zwölf Stunden am Tag auf hohem Niveau arbeiten. Erstaunlich, was der Körper zu leisten vermag, obwohl ihm kaum Energie zugeführt wird. Auch Frommert nimmt weit weniger Kalorien zu sich als nötig. An diesem Tag hat er lange Sport getrieben, ist zweimal geflogen und hat Büroarbeiten erledigt. Gegessen aber hat er – nichts.

Alles im Überfluss, nur an sich selbst sparte er

Dabei ist es nicht so, dass Frommert sich nicht mit dem Thema Essen und Trinken befassen würde. Ganz im Gegenteil. In seiner Vorratskammer hortet er gläserweise kalorienarme Marmelade, obwohl er die seit einer Weile gar nicht mehr isst. In seinem Keller stehen knapp 70 Sixpacks der Limonade 7 Up light. „Wenn ich das irgendwo bekomme, kaufe ich davon den kompletten Bestand auf“, sagt Frommert. Er hat Angst davor, dass es seine Lieblingsprodukte irgendwann nicht mehr gibt. CDs, DVDs und Hemden besitzt er teilweise in dreifacher Ausführung. Doch es war auch schon schlimmer.

Eine Zeitlang hat er jeden Werbezettel der Supermarktdiscounter studiert und rannte montags und donnerstags in die Märkte, um sich die Sonderangebote zu schnappen. „Ich konnte plötzlich alles gebrauchen“, sagt er. Das Einzige, woran Christian Frommert damals sparte, war er selbst. Es ist symptomatisch für seine Situation: In einer Welt des Überflusses hat er es geschafft sich selbst auszuhungern. Er stand im vollen Supermarkt – und ist beinahe verhungert.

Christian Frommert hat das nun in seinem Buch „Dann iss halt was“ aufgeschrieben. Ab und zu erzählt er davon in Talkshows, manchmal hält er auch Lesungen. So wie an einem anderen Tag im Mai, wieder in Berlin, in einem kleinen Lokal in Friedrichshain. Als die ersten Gäste 20 Minuten vor Beginn der Veranstaltung eintrudeln, ist Frommert längst da. Lieber kommt er eine halbe Stunde zu früh als 30 Sekunden zu spät. So ist er vorbereitet. Auf dem Tisch vor sich hat er drei seiner Bücher akkurat drapiert, rechts und links davon steht ein kleines Licht.

Als er beginnen will, setzt er sich auf den Holztisch und stellt tatsächlich die Frage: „Hält der mich aus?“ Frommert meint das ernst, für alle anderen ist die Antwort klar. Knapp drei Stunden wird er auf dem Tisch sitzen, ein Bein auf dem Boden, das andere in der Luft schaukelnd. Während er liest und erzählt, ist es fast andächtig ruhig im Lokal. Unterhalten, Leute einfangen, das kann Frommert, das hat er gelernt.

Zuletzt haben sich viele bei ihm gemeldet, die ähnlich zu kämpfen hätten, sagt er. Darunter auch ein hochrangiger Manager. Frommert möchte den Leuten helfen. Was er nicht möchte, ist, „jetzt zur Ikone der Magersüchtigen werden“. Ein paar Fragen von Gästen beantwortet er noch, schreibt Widmungen und spricht es schließlich doch noch an. Dass er demnächst mal etwas essen müsse. Es ist 22 Uhr.

Er isst immer abends, derzeit nur abends. Das ist sein Ritual. „Der Höhepunkt des Tages“, sagt er. Also zelebriert er es, wenn er Gemüse zu Sticks schnippelt und einen Dip aus Magerquark zubereitet. Es dauert eine kleine Ewigkeit, bis er damit fertig ist. Um welches Gemüse es sich handelt, mag er kaum aussprechen. Dann richtet er seinen markigen Blick nach unten und stammelt etwas von „Kohlrabi und so“, als wäre es ihm peinlich. Mit Getränken verhält es sich ähnlich. Er läuft für jeden Schluck zum Kühlschrank, erzählt er kleinlaut, und trinkt ausschließlich dort, weil er das Gefühl hat, dass er etwas tun muss für seine Light-Limo. Sie sich verdienen.

Der Text ist auf der Dritten Seite erschienen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false