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Fehler eines Arztes: Gefährliche Praxis

Ein Mann bekommt sehr hohes Fieber, sucht Hilfe beim Arzt, aber der findet die Ursache nicht. Wenig später ist der Patient tot. Er hätte nur Penicillin gebraucht – ein fataler Fehler. Die Geschichte eines Mediziners, der für den Beruf lebte, und einmal irrte.

Das Telefon klingelt um vier Uhr morgens. Es ist ein Samstag. Die Frau am anderen Ende sagt, ihr Mann habe hohes Fieber, Landarzt Erich Becker schüttelt sich vor Müdigkeit. Später wird er sagen, dass in diesem Moment die Katastrophe seines Lebens begann. „Geben sie ihm ein Schmerzmittel zum Fiebersenken“, rät er der Frau, so steht es in den Gerichtsakten. „Bestimmt eine Grippe, kommen Sie 8 Uhr 30 in die Sprechstunde.“ Becker kennt den Patienten nicht. Seit 20 Jahren ist er da Hausarzt in einem Dorf. An diesem Wochenende hat er den Notdienst übernommen, die Reihe war an ihm. Nun ist er für einen Radius von 20 Kilometern zuständig.

Erich Becker ist nicht der richtige Name des Arztes. Er will nicht, dass seine Identität gelüftet oder die Region erwähnt wird, in der er lebt. Bis heute lebt. Denn nach allem, was passiert ist und sein Leben durcheinandergebracht hat, ist er trotzdem in demselben Dorf wohnen geblieben. Die Praxis hat er aufgegeben. Tagsüber sitzt er nun in einem Büro bei einer Versicherung. Der 63-Jährige spricht leise und bedächtig durch einen dichten, grauen Vollbart. Die Ärmel seines Hemdes hat er hochgekrempelt, seine Unterarme sind gebräunt. Fotos an der Wand zeigen, dass er mit seiner Frau gern Skitouren macht und wandert.

Becker hat seine Arbeit geliebt, das merkt man, wenn man ihm zuhört. Viele Patienten, sagt er, wollten mehr als Pillen und Salben von ihm. Auf den Abend legte er Termine mit den Menschen, die vor allem reden wollten, über ihre Probleme bei der Arbeit, in der Ehe, mit den Kindern. Weinende Patienten habe er auch schon einmal in den Arm genommen, sagt Becker.

Wie vereinbart brachte die Frau an jenem Samstagmorgen den fiebrigen Patienten in die Praxis. Er war sehr geschwächt und konnte kaum gehen. Der Mann war 49 Jahre alt, die Frau erzählte, dass er 17 Jahre zuvor die Hodgkin-Erkrankung, eine Form von Lymphdrüsenkrebs, gehabt habe. Während der Therapie musste ihm die Milz entfernt werden, ein Eingriff, das wusste Becker, der Menschen anfällig für Infekte macht. Er untersuchte Hals, Nasen, Ohren, Herz und Lunge – konnte aber nichts finden. Auch ein Röntgenbild ergab keinen Befund.

Die Frau sagte, Becker solle ihrem Mann Penicillin geben. Der Arzt entgegnete, er könne nicht einfach ein Antibiotikum anwenden, wenn er noch nicht einmal wisse, was ihr Mann habe. Schließlich sei eine Grippe wahrscheinlich, dagegen helfe ein Antibiotikum nicht. Er gab dem Mann eine Injektion mit einem fiebersenkenden Schmerzmittel und sagte der Frau, sie solle sich am nächsten Morgen melden oder sobald sich am Zustand ihres Mannes etwas ändere. Das war ein Fehler, und er war tödlich.

In Deutschland sterben pro Jahr 500 Menschen an ärztlichen Behandlungsfehlern. Das ist die offizielle Zahl. Die Dunkelziffer sei erheblich höher, sagte vergangene Woche der Gesundheitsforscher Gerd Glaeske, aber vieles würde von den Opfern nicht angezeigt. Sie wollten niemandem schaden, der ihnen nur habe helfen wollen. Trotzdem nehmen Klagen gegen Ärzte seit Jahren zu. 2010 waren es 11 016, die Schadenersatzansprüche geltend machten. Die Bundesregierung will im Herbst mit einem Gesetz die Rechte der Patienten gegenüber Ärzten stärken. Die Beweislast soll umgekehrt werden, so dass der Patient nicht mehr belegen muss, dass seine Schäden auf die ärztlichen Maßnahmen zurückgehen.

Erich Becker erstellt heute medizinische Gutachten. „Ich habe getauscht: geregelte Arbeitszeiten und einen festen Lohn gegen den Verlust des Patientenkontakts und vieler Freiheiten.“ An seiner neuen Tätigkeit schätze er vor allem, dass er nun Kollegen habe. „Als Landarzt war ich ein Einzelkämpfer“, sagt er.

Sonntagmorgen um 8 Uhr, einen Tag nachdem der Patient zum ersten Mal bei Becker in der Sprechstunde war, rief die Frau des Patienten in der Praxis an. Das Fieber sei auf 38,5 Grad gesunken, aber es gehe ihrem Mann noch immer schlecht, zusätzlich habe er jetzt noch Schmerzen in der Nierengegend. Becker bat um eine Urinprobe, die Frau brachte sie. Becker konnte darin aber keine Zeichen einer Infektion finden. Er glaubte immer noch an eine Grippe, verordnete ein stärkeres Schmerzmittel. Um 20 Uhr rief die Frau wieder an. Sie war wütend, der Zustand ihres Mannes habe sich weiter verschlechtert. Becker bot an, vorbeizukommen. Die Frau erwiderte, sie wollten lieber am nächsten Tag zu einem anderen Arzt gehen. Becker sagte, sie solle ihren Mann bitte sofort ins Krankenhaus bringen. Das tat sie nicht. Erst nach Mitternacht, der Mann war kaum noch bei Bewusstsein, wurde er als Notfall ins Krankenhaus eingeliefert. „Warum bloß sind Sie nicht früher gekommen?“, fragte der aufnehmende Arzt. Man verabreichte direkt starke Antibiotika, doch es war zu spät. Der Patient hatte eine akute Blutvergiftung, die Organe waren befallen, drei Wochen später starb er.

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Erich Becker auf dem Nachhauseweg mit der Bahn, umsteigen, warten auf den Anschlusszug. Die untergehende Sonne spiegelt sich auf den Schienen, eine Weiche schickt die Züge in zwei Richtungen. Er blickt den Gleisen nach, damals ist er auf das falsche geraten, ein einziges Mal. Viele Menschen habe er sterben sehen. „Aber nur einmal hatte der Tod eines Patienten mit einem Fehler von mir zu tun“, sagt Becker. „Ich habe nächtelang kaum geschlafen.“ Die Frau des Patienten beschimpfte ihn am Telefon, kurze Zeit später reicht sie eine Klage ein.

„Kein Arzt kann ein ganzes Berufsleben ohne Fehler absolvieren“, sagt Bernhard Mäulen, Psychiater und Psychotherapeut und Leiter des Instituts für Ärztegesundheit in Villingen-Schwenningen. Er behandelt Kollegen, die an einem Kunstfehler verzweifeln. „Die Gesellschaft verzeiht Medizinern bis heute kein Missgeschick“, sagt er. Das mag mit der Selbstherrlichkeit der Ärzteschaft zu tun haben, aber auch damit, dass die Menschen sich ein falsches Bild von der Komplexität ihres Körpers machen. Am Selbstvertrauen der Ärzte kratzt das Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit schwer. Mäulen versucht ihnen deshalb beizubringen, für den eigenen Fehler die Verantwortung zu übernehmen, aber auch andere Faktoren zu sehen. „Ärzte sind oft sehr idealistisch und suchen die Schuld alleine bei sich“, sagt er. „Aber Schuldgefühle bringen niemanden weiter.“

Es geht darum, aus Behandlungsfehlern zu lernen. Bundesweit existieren Systeme, in denen sie anonym gemeldet und dargestellt werden. Für Kliniken wurde im letzten Jahr der CIRS Medical Report eingeführt, für niedergelassene Ärzte hat sich seit 2004 die Internetseite jeder-fehler-zaehlt.de bewährt. Mehr als 700 Fälle sind verzeichnet. Darunter auch Beinahefehler, wie die Verwechselung von Präparaten mit ähnlichen Namen, aber auch lebensbedrohliche Irrtümer. „Wir beobachten, dass Behandlungsfehler meistens eine Verkettung von mehreren Ereignissen sind“, sagt Tatjana Blazejewski, die die Webseite betreut. In 80 Prozent der Fälle sind Systemfehler entscheidend: Stress, Überarbeitung, Missverständnisse in der Kommunikation.

Erich Becker sitzt mit seiner Frau auf der Terrasse seines Hauses, mit dem Rücken zu der Wand, hinter der sich einst seine Praxis befand. Seine Frau Ingrid Becker, kurze, blondierte Haare, schwarze Brille, war zehn Jahre Sprechstundenhilfe. „Mein emotionales Gedächtnis“, so nennt er sie. „Es war ein Zusammenbruch“, sagt sie. „Wie hätte er nach diesem Urteil als Arzt weitermachen sollen?“

Alle Schriftstücke, die mit dem Prozess zu tun haben, hat Erich Becker in einem roten Ordner gesammelt. Die Vorladung zur ersten Vernehmung. „Sie werden aufgefordert, im Rahmen des gegen Sie geführten Strafverfahrens wegen fahrlässiger Tötung am 3. November um 13.30 als Beschuldigter zu erscheinen“, steht da. Das Wort Beschuldigter ist fett gedruckt. Der Prozess fand zweieinhalb Jahre später statt.

Bis heute hat Becker die Kalender aufgehoben, in denen die Termine der Patienten eingetragen wurden. Die Agenda des Jahres 2003 zeigt für den Tag vor dem Prozess neun Patienten, für den danach elf. Das Gerichtsverfahren ist nicht eingetragen, stattdessen verläuft auf der Seite für das Datum eine schwungvoll gezogene Linie von links unten nach rechts oben, als ob er schon vorher geahnt hatte, dass er diesen Tag am liebsten aus seinem Leben streichen würde.

Entscheidend war in der Verhandlung das Gutachten eines Professors für Infektiologie. Darin heißt es in der schwer zu durchdringenden Sprache des Spezialisten: „Das Krankheitsbild der fulminanten Pneumokokkensepsis ohne Primärherd mit disseminierter intravasaler Gerinnung war dem Notfallarzt offenbar nicht bekannt. Die meisten praktizierenden Ärzte haben wegen der Seltenheit dieser Infektion das Krankheitsbild nie selbst gesehen.“

Becker wurde trotzdem vorgeworfen, er hätte die Blutvergiftung aufgrund der Symptome vermuten und den Patienten sofort ins Krankenhaus einweisen müssen. Die Überlebenschance wäre damit von 25 auf 50 Prozent gestiegen. Becker wurde der fahrlässigen Tötung für schuldig befunden, musste eine Strafe von mehren tausend Euro bezahlen, seine Versicherung übernahm den Schadensersatz von 250 000 Euro an die Angehörigen.

Aber damit war die Sache nicht aus der Welt, auch für ihn nicht. Ein Arzt, verurteilt wegen fahrlässiger Tötung, was ist der noch wert, vor seinen Patienten, vor sich selbst? „Das ist das Schlimmste“, sagt Becker mit gepresster Stimme, „als überzeugter Arzt so verurteilt zu werden.“

Haben Sie einen Fehler gemacht?

„Ich glaube schon. Nichtwissen ist keine Entschuldigung. Ich wusste, dass Menschen mit entnommener Milz anfälliger sind für Infekte. Aber dass auch eine Blutvergiftung vorkommen kann ohne Organbefall, war mir damals nicht bekannt. Die Leute haben Fieber wie bei einer Grippe, man findet sonst nichts.“

Tragen Sie Schuld?

„Ich habe ein schlechtes Gewissen.“

Haben Sie das Urteil verdient?

„Nein, dass die volle Schuld mir angelastet wurde, war nicht gerecht. 36 Stunden nachdem der Patient zu mir gekommen war und ich ihn ins Krankenhaus schicken wollte, ist er ja immer noch nicht gegangen.“

Können Sie verstehen, dass die Frau gegen Sie geklagt hat?

„Ja. Sie wollte Penicillin für ihren Mann und hatte recht, das wäre die richtige Therapie gewesen.“

Die Lokalzeitung berichtete über das Verfahren gegen Erich Becker. Sie nannte zwar seinen Namen nicht, wohl aber das Dorf, in dem er praktizierte. Und dort war er der einzige Arzt. Die Patienten sprachen ihn nicht darauf an, aus Respekt, meint Becker. Es seien nach dem Urteil weniger Menschen in die Praxis gekommen, sagt seine Frau. Er arbeitete weiter, am nächsten Tag, in den nächsten Wochen, Monaten, aber es war nicht mehr das Gleiche. „Er war verunsichert, depressiv, wie sollte er so seine Sicherheit als Arzt behalten?“, sagt seine Frau. „Wir sind aus dem Gericht raus, ich habe dich gestützt, und du hast den ganzen Weg geweint. Da ist eigentlich alles kaputtgegangen.“

Der ehemalige Hausarzt blättert durch den Ordner, auf die Prozessakten folgt eine handgeschriebene Fax-Nachricht, ein Freund schrieb, dass er in Gedanken bei ihm sei. Auch das Wort „Zukunft“ kam vor. Es war eine schwierige Zeit damals, jeder Zuspruch wichtig. Becker zieht an seiner Pfeife, starrt in die Rauchschwaden. Er sieht aus, wie man sich einen Landarzt vorstellt. Aber das war einmal.

Frederik Jötten

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