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Kartei der Übeltaten. 50 Tonnen Papier werden im Flensburger Zentralregister aufbewahrt. Noch längst ist hier nicht alles digitalisiert. Foto: dpa

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Flensburger Verkehrssünderkartei: Pünktchen und Autos

Hier lagern 47 Millionen Sünden. So viele haben deutsche Verkehrsteilnehmer in den vergangenen 55 Jahren zusammengesammelt. Aber das Flensburger Kraftfahrt-Bundesamt versteht sich keineswegs als Strafanstalt – sondern als pädagogische Institution.

Flensburg! Wer oder was, zum Teufel, und wo ist Flensburg? Hoch im Norden, so viel ist klar, Stadt von Beate Uhse, das ist gerade in aller Bewusstsein, weil das Fernsehen in diesen Tagen das Leben der Ehe-Hygiene-Unternehmerin aus Flensburg ausgestrahlt hat. Sportaffine Menschen wissen noch, dass Flensburg auch einen Handball-Bundesligisten hat, die SG Flensburg-Handewitt. Werbeaffine Menschen und Bierfreunde können die Erkenntnis beisteuern, dass das Flens flenst.

„Eigentlich wollte ich Ihnen ein paar Punkte mitbringen, aber das Wetter, es hat so geschüttet, dass man nicht einmal zu schnell fahren konnte.“

„Bei uns“, sagt der freundliche Herr Immen, „bekommen Sie mehr Punkte, als die Polizei erlaubt.“

Genau, das ist Flensburg. Die Stadt der Punkte. An der Fördestraße steht ein eher unscheinbares, aber hohes Gebäude, es steht da seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, es ist umzäunt, stark gesichert, wer rein will, braucht eine Erlaubnis und muss sich ausweisen. Und am 1. Januar 2010 lagerten in diesem Gebäude gut 47 Millionen Punkte. Man hat noch nicht neu gezählt, aber im Oktober 2011 werden es nicht weniger sein. Was macht man mit all diesen Punkten? Man könnte sie den Spaniern in die Hand drücken, und dann hielte jeder Spanier, wirklich jeder der 46 661 950 Millionen Spanier, einen Punkt in der Hand.

Aber es sind unsere Punkte, deutsche Punkte, unser aller Punkte. Zumindest derjenigen, die einen Führerschein besitzen und schon mal am Straßenverkehr teilgenommen haben. Oder will jemand behaupten, er hätte noch nie, nie, nie einen Flensburger Punkt ergattert? Zumindest einen verdient? Wer frei von Schuld ist, werfe den ersten Punkt.

Das Verkehrszentralregister im Flensburger Kraftfahrt-Bundesamt hatte in der vergangenen Woche einen Geburtstag, es wurde 55 Jahre alt, eine Schnapszahl mithin. Und weil ein Großteil der ausgeteilten Punkte für Fahrten unter Alkohol zugeteilt wird, liegt es natürlich nahe, dem Amt einen Besuch abzustatten und das Register zu ehren.

Da liegen sie endlich, die Punkte. Oben in seinem Büro mit wunderschönem Blick über die Förde hat Stephan Immen, der zuständig ist im Amt für die Öffentlichkeitsarbeit, die Punkte drapiert. Nicht alle 47 Millionen, aber immerhin Hunderte, die locker ausreichen würden für gleich Dutzende Führerscheinentzüge. Es sind aber keine echten Punkte, nur grüne, gelbe, blaue, rote, viele, viele bunte Smarties, und das und der freie Blick signalisieren schon, dass dieses Amt gar kein böses Amt ist, sondern ein freundliches, offenes und transparentes Amt, eher eine pädagogische als eine Strafanstalt.

Als solche war sie auch gedacht, damals im Oktober 1956, als der Deutsche Bundestag bei einer Tagungswoche in Berlin nach der Beratung über einen Gesetzentwurf zur „Aufhebung der Beschränkung des Niederlassungsbereichs von Kreditinstituten“ und einem Gesetzentwurf über „Bergmannsprämien“ unter Punkt 3 der Tagesordnung über „Maßnahmen auf dem Gebiet des Verkehrsrechts und Verkehrshaftpflichtrechts“ beriet. Maßnahmen waren dringend nötig, 1955 waren auf dem Gebiet der Bundesrepublik 12 000 Menschen im Straßenverkehr ums Leben gekommen und über 350 000 verletzt worden. Zahlen, die sich im Jahr des Beschlusses zur Einführung des Strafregisters noch verschlimmerten mit 14 811 Verkehrstoten.

Weiter auf der nächsten Seite: Ein Volk von Straßen-Anarchisten

Wie alles anfing. Die Flensburger Behörde im Startjahr 1956. Foto: dpa
Wie alles anfing. Die Flensburger Behörde im Startjahr 1956. Foto: dpa

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Es hatte im Vorfeld Bedenken gegeben gegen die Kartei, die meisten wegen der logistischen Probleme, eine solche Kartei aufzubauen und zu verwalten. Aber auch – und da staunt man dann doch über die gewissenhaften Skrupel, die frühere Parlamentarier noch hegten – Angst, dass derartige Karteien Schule machen könnten, mit denen „der Staatsbürger überwacht, registriert und beobachtet wird“.

Aber die wurden, wie im Protokoll nachzulesen ist, von Frau Dr. Schwarzhaupt aus der CDU/CSU-Fraktion hinweggefegt: „Hier geht es um Leben und Gesundheit von Menschen ... (Sehr richtig! Bei der CDU/CSU) ... man wird nicht Konsequenzen etwa für Steuersünder oder für irgendwelche andere Verstöße ... (Sehr gut! Bei der CDU/CSU) ziehen können aus Maßnahmen, bei denen es sich darum handelt, das grauenhafte Anwachsen der Todesfälle und Verletzungen auf den Straßen zu verhindern.“ (Beifall in der Mitte.)

Das Verkehrszentralregister (VZR) wurde beschlossen, Bundestagspräsident Gerstenmaier schloss die Tagungswoche, „Meine Damen und Herren! Arbeitswoche – keine Festreden! Ich glaube, wir sollten das auch weiterhin so halten hier in Berlin …“ (Allgemein lebhafter Beifall.)

Den Zuschlag für den Amtssitz bekam Flensburg, weil das eine strukturschwache Region war, und ein griffiger Name war auch schnell gefunden. Vielleicht hatten die Deutschen noch Zarah Leander und deren Lied über die Liebe, die keine Sünde sein kann, im Ohr, auf jeden Fall hieß das Verkehrszentralregister vom ersten Tag an im Volksmund Verkehrssünderkartei.

47 Millionen Sünden. Registrierte Sünden, die vielen nicht erfassten Sünderlein, die illegal am Steuer mit dem Handy telefonieren, die nächtens in der kleinen Seitenstraße auf dem Fahrrad die rote Ampel als Vorschlag zur Güte begreifen und ablehnen, die die Geschwindigkeitsbeschränkung auf der A 2 zwischen Hannover und Braunschweig als ausgesprochen lästig empfinden und sie ungeblitzt missachten nicht mitgerechnet – wir sind ein Volk von Straßen-Anarchisten. Man könnte jetzt die 47 Millionen Punkte durch die gut 60 Millionen registrierter Fahrzeuge dividieren, aber auf die Höhe eines durchschnittlichen Strafenkontos der Deutschen käme man damit nicht, weil ein Wagen nicht unbedingt von nur einer Person genutzt wird.

Und aus der Tatsache, dass nur etwa neun Millionen Menschen in Flensburg eingetragen sind lässt sich auch nicht schlussfolgern, dass wir uns doch eigentlich recht diszipliniert auf den Straßen bewegen, die Millionen nach Ablauf gewisser Fristen getilgten Punkte sprechen, wenn sie denn noch zu finden wären, eine andere Sprache. Man kann es drehen und wenden, wie man will, wenn wir uns im Urlaub über chaotische Fahrweisen in Rom, Paris, Barcelona mokieren, lachen uns die Punkte von Flensburg nur aus: auch nicht besser!

Erfasst wird alles, was von der Polizei erkannt und mit Bußgeld belegt wird. Und dann landet es in den Büros an der Fördestraße. Digital soll man meinen. Aber dann betritt man eines dieser Büros, und dort sieht man die Sachbearbeiter, wie die freundliche Frau Eßing sitzen, hinter ihren Computern und eingerahmt von Hängeregistraturen.

Altmodischen Hängeregistraturen, in jedem Aktenordner die Sammlung der bösen Taten. Vor drei Jahren hat das Amt mal nachgemessen, wie viele Vorgänge noch auf dem Papier registriert werden, man kam auf 500 Meter Regalwand, in denen geschätzt 10,7 Millionen Blatt Papier stecken, die zusammen etwa 50 Tonnen wiegen. Es wird wohl noch Jahre dauern, bis alle Taten der vordigitalisierten Zeit verjährt, getilgt und abgebaut sind.

Und was sich nicht alles in der Kartei findet. Wo, in welchem Bundesland zum Beispiel die meisten Verkehrssünden begangen werden. In Nordrhein-Westfalen logischerweise, dem bevölkerungsreichsten Bundesland mit extremem Verkehrsaufkommen. Knapp gefolgt von Sachsen, Baden-Württemberg und Berlin.

Auf Seite 3: Männer sind die schlechteren Autofahrer

Weil die Statistik nicht nur ausweist, wo sich der Tatort befindet, sondern auch, ob der Täter zugleich in diesem Bundesland wohnt oder ob er nur Durchreisender war, sieht es nicht gut aus für Berlins Verkehrsteilnehmer. 77 Prozent der erwischten Sünder in Berlin wohnen auch hier. Vielleicht sind es auch nur Zugereiste und noch nicht umgemeldete Schwaben, was den Wert für Baden-Württemberg erklären würde, aber auf so einen Unsinn lässt sich die Statistik nicht ein.

Ein anderes Beispiel: Männer – und die müssen jetzt sehr tapfer sein – sind laut Statistik die erheblich schlechteren Autofahrer als Frauen. 78 Prozent der rund neun Millionen registrierten Täter sind Männer. Ein schwerer Schlag für die Männlichkeit, der auch nicht dadurch abgemildert wird, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung sowohl bei Männern als auch bei Frauen das häufigste Delikt ist. Rasen tun sie alle. Und nun zum Trost der Männer, man muss halt Statistiken auch lesen können: Männer fahren viel mehr Auto als Frauen, sie fahren die längeren Strecken, sie fahren auf den Autobahnen, wohingegen die Frauen, bitte, das ist Statistik, nur mal kurz zum Shoppen um die Ecke zuckeln. Da ist das Risiko, bei Fehlverhalten auffällig zu werden, wesentlich geringer.

Und noch etwas zum Trost, schließlich ist dieser Text von einem Mann geschrieben: hier die Vergehen, die an zweiter Stelle rangieren. Bei Männern sind es die Fahrten unter Alkoholeinfluss. Und bei den Frauen? Missachtung der Vorfahrt! Lässt sich da nicht eine gewisse Rücksichtslosigkeit hineininterpretieren oder vielleicht auch zu große Aufgeregtheit im Straßenverkehr? Lässt sich nicht?

Gut, dann zu Frau Eßing, der Sachbearbeiterin aus dem Referat 23. Anträge zur Erteilung einer Auskunft über die eigene Befindlichkeit im Verkehrszentralregister sind nicht nur statthaft, sie sind ausdrücklich erwünscht. „Also bitte, Frau Eßing, können Sie mal nach den Punkten schauen?"

Frau Eßing befragt den Computer. Und der antwortet: „Unter den folgenden Angaben zur Person Schümann, Helmut, Geburtsort Düsseldorf, ist im VZR zum Zeitpunkt der Auskunftserteilung keine Eintragung erfasst.“ Null Punkte, schwarz auf weiß, ein vorbildlicher Verkehrsteilnehmer. Dass der gar kein eigenes Auto besitzt und überwiegend Fahrrad fährt, muss man dem Computer ja nicht sagen.

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