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Panorama: Flüchtlingsdrama: Nach der Tragödie von Dover diskutiert England über die Asylgesetze

Die "European Pathway" legte kurz nach Mitternacht in Dover an. Viereinhalb Stunden hatte die Fahrt von Zeebrügge über den Kanal gedauert.

Die "European Pathway" legte kurz nach Mitternacht in Dover an. Viereinhalb Stunden hatte die Fahrt von Zeebrügge über den Kanal gedauert. In langen Kolonnen rollten die Lastwagen von der Frachtfähre zu den Abfertigungshallen. Dort wurde der 18 Meter lange Kühlwagen mit dem holländischen Kennzeichen auf die Nebenspur gewunken. Die Firma "Van der Spek" war weder der Schifffahrtslinie "P & O" noch den britischen Zöllnern bekannt. Ein Beamter prüfte deshalb routinemäßig die Frachtpapiere, in die eine Ladung holländischer Treibhaustomaten eingetragen war. Dann öffnete er die Ladeluke des hermetisch versiegelten Kühlwagens für eine Stichprobe.

Was er entdeckte, war so entsetzlich, dass ihn wegen des Schocks jetzt Psychologen betreuen: Hinter den Tomatenkisten fand sich eine falsche Wand, die ein Drittel der Ladefläche abtrennte. In dem kleinen Verschlag lagen die zusammengekrümmten Leichen von 54 Männern und vier Frauen. Zwei weitere Männer gaben noch Lebenszeichen von sich. Sie wurden sofort in die Intensivstation des Krankenhauses von Dover eingeliefert. Bewaffnete Polizisten bewachen nun das Krankenzimmer. Sie sollen verhindern, dass die Hintermänner des Menschenschmuggels die zwei Kronzeugen ausschalten.

Die Polizei bemüht sich nun, die Hintergründe für den Tod im Anhänger zu klären, den der britische Innenminister Jack Straw als "entsetzliche Tragödie" beklagte. Ein Polizeisprecher bedauerte, dass genaue Einzelheiten nicht bekannt gegeben werden könnten, so lange Pathologen noch nach der Todesursache suchen. Was bis jetzt durchgesickert ist, lässt vermuten, dass die in drangvoller Enge eingepferchten Menschen erstickten. Die Kühlanlage war nicht eingeschaltet, es herrschte an beiden Ufern des Ärmelkanals tagsüber glühende Hitze, die sich auch in der Nacht nur wenig abkühlte. Aber auch ein Defekt an der Auspuffanlage, durch die tötliche Abgase in den Wagen drangen, kann nicht ausgeschlossen werden. Bei den Opfern soll es sich um Chinesen handeln. Die Polizei gab lediglich bekannt, sie stammten vermutlich aus dem "südostasiatischen Raum".

Für Innenminister Straw ist der elende Tod der 58 Menschen eine weitere Rechtfertigung, mit aller Schärfe gegen den Schmuggel von illegalen Einwanderern vorzugehen: "Wir haben den Menschenhandel durch die neuen Gesetze schon eindämmen können." Doch der Anreiz für die Verbrecher ist hoch, wie der Minister sagt: "Sie können mit Menschen mehr Geld machen als mit Drogen." Im April hatte die britische Regierung ihre Asylgesetze verschärft. Mit drakonischen Maßnahmen will das Königreich die Flut der Flüchtlinge eindämmen, die auf der Insel eine Heimat suchen. Nach Deutschland ist Großbritannien in Europa zum Hauptziel für Asylsuchende geworden.

Im vergangenen Jahr zählte die Regierung 71 160 Flüchtlingen, so viele wie noch nie und rund 50 Prozent mehr als im Vorjahr. Die meisten von ihnen kommen aus dem früheren Jugoslawien. Mit Abstand folgt an zweiter Stelle Sri Lanka. Während der Thatcher-Ära in den Achtzigern kamen durchschnittlich weniger als 30 000 Asylbewerber pro Jahr, von denen die Hälfte schließlich anerkannt wurde. Die Toleranz der Briten schwindet im gleichen Maße, in dem der Zustrom der Fremden zunimmt. Die Massenpresse begann eine Kampagne gegen bettelnde "Zigeunermütter", die am Mitleid fürstlich verdienten. Die Grafschaften an der Südküste und die Londoner Bezirke wehren sich heftig dagegen, dass ihnen die über die Fährhäfen eingereisten Asylanten zugeteilt werden sollen und dann ihre ohnehin schmalen Sozialetats belasten.

Doch die Behörden registrieren ohnehin nur einen geringen Teil der Flüchtlinge. Die französische Polizei nimmt an, dass monatlich Zehntausend Personen versuchen, sich über die Kanalhäfen nach England einzuschmuggeln. Letztes Jahr nahmen die französischen Gendarmen in den Häfen 8500 Menschen fest, die auf eigene Faust illegal nach England ausreisen wollten. Doch viele vertrauen sich Schlepperbanden an, die bis zu 60 000 Mark pro Person verlangen. Im April trat ein Gesetz gegen die Komplizen der Menschanhändler in Kraft. Lastwagenfahrer müssen für jeden entdeckten blinden Passagier 6000 Mark Strafe zahlen. Momentan sind niedliche Cockerspaniels die wichtigsten Helfer der Einwanderungsbehörden. Sie schnüffeln an den Lastwagen und bellen, wenn sie in der Fracht Menschen riechen.

Die Hilfe der vierbeinigen Zöllner soll nun bald durch lückenlose elektronische Schleusen ergänzt werden, durch die Lastwagen bei der Einreise rollen. Die Einwanderungsbehörden prüfen die Methoden an der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Dort sind Röntgenanlagen und elektronische Geruchssensoren ohne großen Aufwand in der Lage, die in Lastwagen versteckten Menschen zu erkennen. Doch auch die Methoden der Schlepperbanden werden immer raffinierter. Sie gelten als moderne Sklavenhändler, die mit dem Flüchtlingselend mehr Geld machen können als mit Drogenschmuggel. Wie eine Fernsehdokumentation der BBC bewies, werdenin den Ländern Osteuropas viele Männer und Frauen mit dem Versprechen auf Papiere und gute Arbeit in Großbritannien geködert. Dort angelangt, vermieten Schlepper sie zu Hungerlöhnen als Landarbeiter. Oder sie enden als Prostituierte in schäbigen "Massagesalons". Ihre Einkünfte behalten die Schlepperbanden als Honorar für Schmuggel und Unterkunft ein. Eine andere Untersuchung behauptet, dass vier Banden, die auf dem indischen Subkontinent arbeiten, jährlich mehr als 2000 Menschen nach Großbritannien einschleusen.

Seit diesem Frühjahr hat auch die Zahl chinesischer Asylbewerber deutlich zugenommen. Sie stehen jetzt hinter Sri Lanka an zweiter Stelle. Da wegen der scharfen Asylgesetze in Großbritannien die Anerkennung als Flüchtling immer schwieriger wird, blüht das Geschäft der Menschenhändler, sagt Nick Hardwick, der Präsident der britischen Flüchtlingshilfe. Seine Organisation unterstützt ausdrücklich eine schärfere Kontrolle der Häfen. Doch es ist fraglich, ob sich das Problem damit lösen ließe. "Es wird langsam praktisch unmöglich, dass Menschen sich vor politischer Verfolgung nach Großbritannien retten können", sagt Hardwick. "Deshalb greifen sie zu verzweifelten Maßnahmen. Wir müssen die Asylfrage erneut vernünftig überdenken, um in Zukunft solche schrecklichen Tragödien zu verhindern."

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