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Flugausfall: Dem Himmel so fern

Endlich: Vier Stunden verspätet rollt die Maschine auf die Startbahn. Aber sie startet nicht. Zurück, Hotel, neues Warten. 23 Stunden zu spät erreicht der Easyjet-Flug 4574 Berlin. Für so etwas gibt es Entschädigungen. Aber wer sie haben will, erlebt sein blaues Wunder.

Gerade in Ferienzeiten ist er ja sehr verbreitet, der Ärger über Verspätungen oder angebliche Servicemängel im Flugverkehr. Besonders trifft es die sogenannten „Billigflieger“, denen sich Millionen Passagiere in einer auf überfüllten Airports und bei längeren Warteschlangen immer wieder zu beobachtenden innigen Hassliebe verbunden fühlen. Bei Easyjet und seinen Kunden aber geht es zurzeit sehr viel heißer her als sonst sommerüblich. Kaum hat sich die isländische Vulkanasche gelegt, da streiken mal die französischen, dann wieder die griechischen Fluglotsen, und die seien schuld, sagt Thomas Haagensen, der Geschäftsführer von Easyjet Deutschland. Schuld an dem Schlamassel, dass ausgerechnet in der Hauptsaison sich zahlreiche Easyjet-Flüge verspäten oder gar ausfallen. Verantwortlich gegenüber ihren Kunden aber bleibt die Airline.

Besonderen Zoff gibt es deswegen seit einigen Wochen in Berlin. Auch die englische Presse hat über die vermehrten Vorwürfe von Passagieren berichtet, die in Berlin-Schönefeld nicht oder viel zu spät ankamen oder abflogen. Und dass Easyjet seine Flugpläne angeblich zu eng kalkuliert habe und bei Ausfällen über zu wenig Ersatzmaschinen und Flugpersonal verfüge – und selbst in drastischen Fällen von Verspätungen oder gar Flugausfällen nur unzureichend informiere. Auch würden Kompensationen meist verweigert.

Easyjet reagiert auf all die Vorwürfe mittlerweile erkennbar gestresst. Die britische Fluglinie, mit 50 Millionen Passagieren auf über 500 Strecken in Europa die viertgrößte Airline, will nun mehr Maschinen und Menschen einstellen. Auch in Deutschland. Deshalb gibt es beispielsweise in Berlin-Mahlow am kommenden Dienstag einen eigenen „Recruitment Day“. Einen Rekrutierungstag.

Das klingt schneidig. Doch was passiert einem Passagier, der sich an Easyjet geschnitten hat – und der daraufhin zwar keinen großen Schnitt machen will, aber doch sein Recht auf Schadensersatz sucht? Ich habe es gerade erlebt.

Die Geschichte beginnt am Flughafen von Neapel. Am 6. Mai 2010 bietet Easyjet von dort die einzige Direktverbindung nach Berlin. Ich hatte in Neapel beruflich zu tun und muss an diesem Tag abends wieder in Berlin sein. Easyjet-Flug 4574 soll um 15 Uhr 10 starten, Ankunft in Berlin-Schönefeld um 17 Uhr 25. Beim Einchecken zwei Stunden vorher ist auf vorsorgliche Nachfrage hin von einer Verspätung nichts bekannt. Keine Vulkanasche mehr, auch der Vesuv hat kein Wölkchen über sich. Doch gegen 14 Uhr sehe ich auf einem der Abflugmonitore den Hinweis „Delayed“. Ohne neue Abflugzeit. Und kein Easyjet-Mitarbeiter weit und breit. Irgendwann nach 16 Uhr höre ich von einer anderen deutschen Passagierin im Warteraum, dass sie soeben von Verwandten in Berlin angerufen wurde, die sie abholen wollten: In Schönefeld sei auf den Monitoren als voraussichtliche Landezeit des Flugs EZY 4574 jetzt 22 Uhr angezeigt. In Neapel ist davon noch nichts zu erfahren.

Am Spätnachmittag, wir sollten jetzt schon in Berlin sein, verkündet eine italienische Flughafenangestellte, die darauf Wert legt, keine Angestellte von Easyjet zu sein und nur im Auftrag zu handeln, man wolle demnächst das Boarding beginnen. Kurz vor 19 Uhr, nach rund einer Stunde Warten im Flugzeug, rollt die Maschine auf die Startbahn und scheint bereit zum Takeoff, da bricht der Pilot den Start ab. Wohl ein technisches Problem, und zurück in den Flughafen, erneutes Warten, keine Lautsprecherdurchsagen, schließlich gegen 20 Uhr Zurufe auf Englisch und Italienisch: Man solle sein Gepäck abholen; wer umbuchen oder in Neapel bleiben wolle, könne das tun, allen anderen biete Easyjet nun eine Hotelübernachtung. Um 20 Uhr 30 beginne der Bustransfer, der neue Flug starte am nächsten Morgen um zehn, wer nicht den Hotelbus benutze, müsse gegen 7 Uhr 30 wieder am Flughafen sein.

Es gibt nach Deutschland keine alternativen Flüge mehr, die von Easyjet beauftragte Dame teilt nur mit, dass das Unternehmen für unvermeidliche Taxikosten und zwei Telefonanrufe aufkomme, aber nicht für eine Umbuchung auf eine andere Airline. Dann im Dunklen eine Busfahrt über die Autobahn am Rand von Neapel. Die Nacht verbringen wir in einem vielstöckigen Holiday Inn, zwar irgendwie in Neapel, aber umgeben von einer ausgestorbenen Fußgängerzone, dahinter fahle Industriebrachen, Baracken, Niemandsland und nach Einbruch der Dunkelheit eine totale No-go-Area.

Am nächsten Tag geht der Flug dann nicht um zehn sondern kurz nach 13 Uhr, worüber die Hotelgäste vorher informiert wurden; doch es gibt Wutanfälle von anderen Passagieren, die seit dem frühen Morgen schon wieder stundenlang am Flughafen standen. Schließlich landet der Easyjet-Flug mit rund 23 Stunden Verspätung in Schönefeld. Einige Passagiere hatten sich noch in Neapel ein am Tresen eines einzigen Schalters teils auf Italienisch, teils auf Englisch ausliegendes Blatt mit kurzen Informationen über „Rules on Compensation and Assistance“ gegriffen. Eigens hingewiesen hat niemand auf diesen Zettel, aus dem ich zum ersten Mal, wenn auch in unklaren, umständlichen Worten etwas über die Existenz der EU-Verordnung „EG 261/2004“ erfahre.

Später erst lerne ich aus den neun Druckseiten langen Regularien vom 11. Februar 2004, dass die europäischen Flugunternehmen (zu denen auch die britischen dank regierungsoffizieller Anerkennung der Norm gehören) ihre Fluggäste schon bei der Abfertigung „klar lesbar“ und „deutlich sichtbar“ auf ihre Rechte hinweisen müssen. Das betrifft „insbesondere Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen“ in Fällen, wenn der „Flug annulliert wird oder um mindestens zwei Stunden verspätet ist“. Ungeachtet von Ersatzflügen oder Rückzahlung des Flugpreises sind die Airlines nach Artikel 6 und 7 der Verordnung 261/2004 bei Flügen innerhalb der EU und einer Flugstrecke von bis zu 1500 Kilometern ab zwei Stunden Verspätung zu einer Kompensation von 250 Euro und bei Strecken über 1500 km Entfernung und einer Verspätung von mindestens drei Stunden zu 400 Euro „Ausgleichszahlung“ pauschal verpflichtet. Ausgenommen sind hierbei Fälle von unvermeidbarer höherer Gewalt („außergewöhnliche Umstände“), beispielsweise politische Unruhen, starke Unwetter und Naturkatastrophen, unerwartete Gefährdungen der Flugsicherheit und direkte plötzliche Streik-Einwirkungen.

Solch höhere Gewalt lag bei Flug EZY 4574 offenbar nicht vor. Neapel-Berlin, das sind nicht ganz 1500 Kilometer, lautete schon die Auskunft eines über die Frage völlig überraschten Flugbegleiters. Es geht also um 250 Euro, nach 23 Stunden Brass. Aber sollst du jetzt noch Zeit und Mühe in die Auseinandersetzung mit einem in keinem Büro und mit keiner direkten Telefonverbindung greifbaren englischen Konzern investieren? Ich lasse die Sache einen Monat lang sacken, Freunde und Bekannte aber raten schon vor der jüngsten Aufregung zu einer Art „Nagelprobe“. Dazu gehört freilich, nicht als Journalist aufzutreten und nach einer Unternehmenspresseabteilung zu fahnden. Sondern sein Recht als normaler Passagier zu (ver)suchen.

Die Kommunikation mit Easyjet ist ja nicht so einfach. Telefonnummern auf den erwähnten, in Schönefeld auch auf Deutsch ausliegenden Infozetteln verweisen auf Hotlines: und das schon mit der Anmerkung, dass es lange Wartezeiten geben könnte. Hotlines sind kostspielig und erfahrungsgemäß etwas für Masochisten. Also eine E-Mail. Da gab es bis vor kurzem noch diverse Varianten, doch aufgrund der aktuellen Kritik hat man auf www.easyjet.com jetzt gleich in der Startleiste eine Rubrik „Flugbetriebsstörungen heute“ eingerichtet, die einen auf Klick weiternavigiert. Jedenfalls gelange ich schon vor dieser Neuerung durch das Dickicht von Ableitungen oder Ablenkungen auf ein Feld, in dem ich meinen Fall auf Englisch und auf Deutsch schildere – und mich auf die EU-Verordnung Nummer 261/2004 berufe.

Zunächst gibt es mal englische, mal deutsche Standardantwortmails, dass man wegen der Nachwirkungen der isländischen Vulkanasche um Geduld bitte. Manchmal duzt einen Easyjet auch und möchte, „Hi Peter“, ganz schnell nur als Kundenservice beantwortet bekommen, wie man mit dem Kundenservice zufrieden sei. Dann jedoch antwortet nach neun Tagen „Rosemary A“ vom Kundenservice auf Englisch (wie immer im Folgenden), dass Easyjet jegliche Unannehmlichkeit („any inconvenience“) bedaure, indes: Mein Flug EGGFJ 74 sei doch pünktlich geflogen. Das freilich war der dreistündig verspätete Ersatzflug am nächsten Tag. Zum annulierten Flug EZY 4576 könne sie, Rosemary A, nichts sagen, weil ich (obwohl auf der Passagierliste) keinen Buchungsnachweis erbracht habe.

Also maile ich die Buchungsnummer und dass es mir um den Ersatzflug nicht gehe. Darauf antwortet Mrs. Anna Krawczyk (nunmehr ein voller Name) mit ausführlichem Bedauern („I was sorry to learn …“) und der Versicherung, dass Pünktlichkeit zu den höchsten Unternehmenszielen gehöre und man dem Kunden die „allerhöchste Aufmerksamkeit“ widme. Dann folgt die Bemerkung, dass ich jedes Recht zum Flugverzicht oder zur Umbuchung mit Easyjet gehabt habe. Aber: „Ich stelle bei dieser Gelegenheit fest, dass Sie sich entschieden hatten mit dem verspäteten Flug zu fliegen. Aus diesem Grund können wir keiner Kompensation zustimmen.“ Ich könne mich ja an meine Reiseversicherung wenden.

Ich bleibe höflich und erkläre, dass ich mangels Alternative gezwungen war, den angebotenen, gleichwohl über 20 Stunden verspäteten Ersatzflug zu nehmen. Deshalb beharre ich auf dem EU-Recht.

Nun folgt mit der Anrede „Dear Peter“ die Zuteilung einer „Referenznummer“: Mein Fall hat bei Easyjet seit 8. Juli das Aktenzeichen 1007008004801. Kurz darauf antwortet Mr. Benjamin Gaukroger vom Kundenservice, diesmal knapp, dass das EU-Recht nur zu Kompensationen bei mehr als drei Stunden Verspätung (Anm.: korrekt wäre „zwei Stunden“) verpflichte, wenn die Verspätung eine Folge von „nicht-außergewöhnlichen Umständen“ („non-extraordinary circumstances“) sei. Hier sei ein „technisches Problem“ ausschlaggebend gewesen und dieses sei nach EU-Recht kein „nicht-außerordentlicher Umstand“.

Da schluckt man zunächst. Ich muss mir all diese zum Teil doppelten Verneinungen erst mal in Klartext übersetzen. Danach schreibe ich Mr. Graukoger, dass sowohl der Europäische Gerichtshof in Luxemburg wie auch der Bundesgerichtshof entschieden hätten, dass technische Probleme an einem Flugzeug grundsätzlich nicht als „außerordentliche Umstände“ anzusehen seien und eindeutig in die Risikosphäre der Airline fallen. Ich beharre also auf meinem Anspruch und sei das „Filibustern“ von Easyjet nunmehr leid. Falls sich das Unternehmen nicht endlich zu seiner Verantwortung bekenne, werde ich den Fall meinem Rechtsanwalt übergeben.

Am 19. Juli mailt hierauf Mr. Steven Weir, er bedaure, dass ich mit der bisherigen Entscheidung von Easyjet nicht einverstanden sei. Deshalb werde der Fall nun „unserem Senior Team“ übergeben, wo man ihm „unsere unverzügliche Aufmerksamkeit“ schenken werde. Man strebe an, mir von dort binnen sieben Werktagen zu antworten.

Inzwischen sind neun Werktage ohne Antwort vergangen, aber nach wochenlangen Abwimmelungsversuchen scheint man einen bei Easyjet nun immerhin so ernst zu nehmen, wie es längst jeder Kunde verdient.

Ein Hoffnungszeichen.

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