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Fluss kürzer als gedacht: Rheingefallen

Der Rhein ist offenbar neunzig Kilometer kürzer als bisher angenommen. Wie konnte es zu diesem Irrtum kommen? Sind die Kilometerschilder falsch? Wie geht es nun weiter? Und passieren solche Fehler öfter in der Geografie?

Es klingt wie eine Verschwörung. Schulbücher, Lexika, selbst offizielle Dokumente von Behörden nennen hartnäckig eine Zahl, die sehr wahrscheinlich falsch ist. Eine Absprache steckt dennoch nicht dahinter, eher Abschreiben. Das vermutet zumindest Bruno Kremer, der den Rhein aufs rechte Maß zurückgestutzt hat. Der Fluss sei nicht, wie vielfach geschrieben, 1320 Kilometer lang, sondern 1233, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“. Der Biologe von der Universität Köln arbeitete an einem Kompendium zur Ökologie des Flusses und wollte dabei auch dessen genaue Länge angeben. Dabei fiel ihm auf, dass in Schriften aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Rhein kürzer erscheint als heute.

Kremer ging der Sache nach. Von Konstanz bis zur Mündung ist der Fluss mit weithin sichtbaren Tafeln „kilometriert“. 1036 sind es, daran zweifelt auch er nicht. Auf genauen Karten vermaß er das erste Stück von der Quelle bis zum Abfluss des Bodensees. Zählt er alles zusammen, kommt er auf 1233 plus minus wenige Kilometer. „Die Zahlenangabe der modernen Nachschlagewerke ist schlicht falsch“, sagt Kremer. „Es muss sich um einen Zahlendreher handeln, irgendwann um 1960 wurde wohl aus 1230 eine 1320.“

Sind die Kilometerschilder falsch?

Die Zahlen auf den Schildern entlang des Flussufers sind sehr wahrscheinlich korrekt. Die Kilometrierung beginnt nämlich nicht an der Quelle, sondern erst in Konstanz, an der Mitte der Rheinbrücke. Die durchgehende Zahlenfolge gibt es erst seit dem 1. April 1939, zuvor hatte jeder Anrainerstaat sein eigenes Stromstück vermessen und markiert. Jeder der fünf Staaten (Baden, Bayern, Hessen, Preußen und die Niederlande) hatte an der jeweiligen Landesgrenze im Oberlauf seine Nullmarke gesetzt. Als die einzelnen Messungen vor 71 Jahren zusammengeführt wurden, passten die Kilometermarken an den Grenzen nicht richtig. Daher gibt es heute etwa am Roxheimer Loch (km 436) und am Bingener Loch (km 529) „kürzere Kilometer“. Insgesamt ist die Kilometrierung des Rheins zwischen Konstanz und der Mündung bei Hoek van Holland durch die fehlerhaften Übergänge 1,2 Kilometer länger als der reale Strom. Auch stehen die Schilder an Land nicht immer exakt 1000 Meter voneinander entfernt. Denn die Angaben beziehen sich auf die Flussmitte, die jeweilige Marke wird vom Strom ausgehend im rechten Winkel ans Ufer gesetzt. So können in „Kurven“ Abweichungen von mehr als 100 Metern entstehen, die sich am Ende aber ausgleichen.

Wie geht es nun weiter?

Die Bundesanstalt für Gewässerkunde in Koblenz habe intern schon lange ein dickes Fragezeichen hinter den Wert von 1320 Kilometern gesetzt, sagte deren Sprecher der Zeitung. Bei der im April anstehenden Tagung der Kommission für Hydrologie des Rheingebietes, der neun Staaten angehören, wolle man um eine Überprüfung der Flusslänge und gegebenenfalls offizielle Korrektur bitten, heißt es. Auch der Brockhaus-Verlag habe angekündigt, seine Einträge zu revidieren.

Gibt es noch mehr falsche Angaben in der Geografie?

Mit Sicherheit. Denn je mehr Daten zusammengetragen werden, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass darin falsche Werte sind, die auch bei aufmerksamer Kontrolle nicht entdeckt werden. Das können schlichte Tippfehler sein oder besagte Zahlendreher (siehe Kasten). Es gibt allerdings auch viele Angaben, die gar keine sind. Dazu braucht man sich nur eine Karte mit wilden Höhenlinien anzusehen. Bei der Landvermessung werden aus Zeitgründen nur markante Punkte erfasst. Der Raum dazwischen wird mittels „Interpolation“ verbunden. Kritiker würden das mit „phantasievollem Ausmalen“ übersetzen. Tatsächlich kommen die Höhenlinien oder Biegungen von Bächen der Realität oft sehr nah – ohne dass ein Vermesser an der Felswand hing oder knietief im Sumpf stand.

Eine Messung kann aber auch schlicht falsch sein – was sich allerdings erst beim Nachmessen zeigt. Der Mount Everest ist ein Beispiel dafür. Wie die 1320 Kilometer des Rheins können viele die 8848 Meter des höchsten Bergs der Erde fast im Schlaf nennen. Tatsächlich wurde die Höhe aber mehrfach korrigiert. Zunächst hat man sich darauf geeinigt, die Höhe auf die maximale Erhebung des Felsens zu beziehen, weil die Dicke der Eisschicht darauf je nach Jahreszeit um mehrere Meter schwanken kann.

Dennoch kamen verschiedene Messteams zu unterschiedlichen Ergebnissen. Im Mai 1999 wurde die Höhe des Felssockels mit 8850 Metern gemessen. Fünf Jahre später waren es knapp 8849 Meter, im Jahr darauf sogar nur noch 8844 Meter. Allerdings wurde bei der jüngsten Datenerhebung auch das darüber liegende Eis vermessen. Es ist dreieinhalb Meter dick. Die tausendfach genannte Angabe zur „höchsten Erhebung“, 8848 Meter, ist also doch richtig. Sofern man sie auf den Meeresspiegel bezieht.

Vom Erdmittelpunkt aus betrachtet ist allerdings der Chimborazo in Südamerika der höchste Berg der Erde. Und misst man vom Fuß ausgehend, dann müsste der Mauna Kea auf Hawaii diesen Titel erhalten. Er steht auf dem Grund des Pazifiks.

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