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Kinderkrankenschwester Birte Holst kümmert sich um ein Frühchen in einem Brutkasten im Klinikum Links der Weser in Bremen.

© dpa

Frühchen-Stationen: Frühgeburten: An der Grenze zwischen Leben und Tod

Frühgeborene Babys sind extrem gefährdet. Spezialisten kämpfen Tag für Tag um sie – und stemmen sich dabei gegen die Natur.

Sie sind eine der größten Patientengruppen in Kinderkliniken, und zugleich sind sie in der gesamten Krankenhauslandschaft die Allerkleinsten: Die Frühgeborenen. Sieben von hundert Kindern werden heute in Deutschland vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren, eines von ihnen wiegt weniger als 1500 Gramm. Das sind in jedem Jahr allein in Deutschland mehr als 8000 Kinder. Immer mehr „Frühchen“ überleben heute, obwohl sie bei ihrem Start ins Leben nur ein knappes Pfund auf die Waage brachten. Der Preis ist meist eine monatelange Behandlung auf der Intensivstation für Neugeborene, das herzzerreißende Bangen der Eltern um das Leben ihrer Babys – und später ihre ebenso große Sorge um deren Zukunft ohne schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen. „Die Gedanken daran können einen schon verfolgen“, sagt Klaus Vetter, Chefarzt der Geburtshilfe im Berliner Vivantes Klinikum Neukölln, wo 2010 insgesamt 128 Kinder mit unter drei Pfund Gewicht geboren wurden.

Eines der beiden Babys, die jetzt im Bremer Klinikum Mitte an einer Blutvergiftung gestorben sind, war so ein ganz besonders kleines Neugeborenes, nur knapp 500 Gramm schwer. Für großes mediales Aufsehen sorgte das vor allem, weil in der Klinik schon im letzten Jahr drei Kinder an den Folgen einer Infektion mit sogenannten ESBL-tragenden Klebsiellen gestorben waren. Gegen diese Bakterien sind verschiedene gängige Antibiotika machtlos. Das Krankenhaus reagierte damals nicht nur mit der Entlassung des zuständigen Chefarztes, sondern auch mit einer zeitweiligen Schließung und gründlichen Desinfektion der Station - und mit einem Maßnahmenplan zur Verbesserung der Hygiene, zu dem auch eine optimierte Fahndung nach Problemkeimen gehört. Im Januar wurde die neonatologische Intensivstation wiedereröffnet, doch schon kurz darauf, in der letzten Woche, wurden bei einer der Kontrollen wieder diese Keime gefunden. Am Mittwoch verfügte die Bremer Gesundheitssenatorin die Schließung der Station, der für das Klinikum zuständige Geschäftsführer wurde von seinen Aufgaben freigestellt, die Staatsanwaltschaft eingeschaltet.

Frühchen können oft noch nicht atmen

Ob es wirklich die auf der Station wiederholt gefundenen Klebsiellen waren, die den zwei verstorbenen Kindern zum Verhängnis wurden, ist noch nicht geklärt. „Die Analysen laufen“, erklärte ein Sprecher des Klinikums gegenüber dem Tagesspiegel. Zwar fanden sich die Keime auf der Haut der Neugeborenen. Doch den Winzlingen drohen auch sonst vielfältige Gefahren für Leib und Leben. „Hauptproblem ist ihre extreme Unreife“, sagt der Neugeborenenmediziner Frank Jochum, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Evangelischen Waldkrankenhaus Spandau. So sind die Lungen noch nicht auf die elementare Lebensfunktion des Atmens vorbereitet. Oft kommen die Ärzte nicht darum herum, Geräte zur Beatmung einzusetzen oder zentrale Venenkatheter zu legen. Krankheitskeimen sind die Winzlinge nahezu wehrlos ausgeliefert. „Ihr Immunsystem ist ebenfalls noch unreif, zudem sind bei ihnen die Grenzflächen der Haut und der Schleimhäute sehr dünn, das macht es Bakterien leichter, die Barrieren zu durchdringen“, erklärt Jochum. Zwar gehört es zum gesunden Gedeihen, dass der Organismus nach und nach von Keimen aus der Umgebung besiedelt wird – aber gefährlich wird es, wenn durchsetzungsstarke, gegen Antibiotika resistente Krankenhauskeime in die kindliche Blutbahn gelangen. Sie können schwere Infektionen auslösen, bis hin zur Überschwemmung des Körpers mit Krankheitskeimen, der Blutvergiftung oder Sepsis, an der das winzige Frühchen in Bremen starb. Einige Kinder, die eine solche Infektion überleben, tragen aus dieser Krisenzeit zeitlebens die Folgen mit sich herum, zum Beispiel in Form von körperlichen oder geistigen Behinderungen.

Wenn durch sorglosen Umgang mit Antibiotika Keime gezüchtet werden, die gegen die meisten Mittel unempfindlich sind, und wenn die Zahl der Gesunden ansteigt, die solche Keime unbemerkt mit sich herumschleppen, dann ist das vor allem für Frühchen gefährlich. Von Brutkasten zu Brutkasten können die Krankheitskeime zum Beispiel über die Hände der Ärzte und Pflegekräfte wandern. Die sollten deshalb immer wieder gründlich desinfiziert werden. Hat eine Pflegekraft mehrere Kinder zu versorgen und droht einem von ihnen plötzlich ein Atemstillstand, dann muss aber alles so schnell gehen, dass es schier unmöglich ist, sich daran zu halten.

Rekorde können nicht das Ziel sein

„Doch auch ohne dass jemand etwas falsch gemacht hat, passiert es immer wieder, dass eines der uns anvertrauten Kinder stirbt“, sagt Jochum. Einer Studie zufolge, die im Jahr 2000 im „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht wurde, sterben 45 Prozent der Kinder, die nach 23 Schwangerschaftswochen geboren werden, sofort nach der Geburt, weitere 45 Prozent später auf der Intensivstation. Und von den letztlich Überlebenden ist nur die Hälfte ohne bleibende Beeinträchtigung.

„Rekorde können hier nicht das Ziel sein“, dämpft Vetter die Erwartungen. Manchmal ist es sinnvoll, der Natur ihren Lauf zu lassen und sich dem Tod nicht mit allen Mitteln der modernen Intensivmedizin entgegenzustemmen. Vor einigen Jahren haben sich in Deutschland deshalb vier einschlägige medizinische Fachgesellschaften auf eine Leitlinie zum Thema „Frühgeburt an der Grenze zur Lebensfähigkeit des Kindes“ geeinigt. Die Grenze, ab eine Behandlung auf jeden Fall sinnvoll erscheint, wird hier bei vorangegangenen 24 Wochen Reifezeit im Bauch der Mutter gesehen.

„Wir werden täglich mit Grenzen konfrontiert“, sagt Jochum.

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