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Fußball-WM 2014 in Brasilien: Warum das Maracanã-Stadion das Volk spaltet

Das Maracanã in Rio war die größte Sportstätte der Welt. 180 000 Menschen passten hinein. Doch für die Fußball-WM in Brasilien musste das Stadion komplett umgebaut werden. Es verbindet arm und reich jetzt nicht mehr, es teilt.

Als Francisco Moraes das neue Maracanã betritt, ist er nervös. Er hat das Stadion seit zweieinhalb Jahren nicht mehr gesehen. Es war im September 2010 geschlossen worden, um es für die Fußball-WM 2014 umzubauen. Für Moraes war die Zeit wie ein Entzug. Der 73-Jährige hat einen Großteil seines Lebens in dem Rund verbracht. Vielleicht sogar seine wichtigsten Momente erlebt. Hier hat er gesehen, wie Pelé lacht, er hat Garrinchas krumme Beine bestaunt, Zicos wuchtigen Schuss bewundert und Ronaldinhos Haken verfolgt. Moraes ist ein Verrückter, ein Fußballzeitzeuge.

Auch deshalb hat man ihn eingeladen, sich das reformierte Stadion vorab anzuschauen. Moraes glaubt, er sei vorbereitet.

Im Jahr 1960 setzte Moraes erstmals den Fuß ins Maracanã und war sofort von der Weite des Stadions fasziniert. „Ich fühlte mich erhaben“, sagt er. Gleichzeitig erwachte seine Liebe zu Flamengo, Rios größtem Fußballklub, der im Maracanã seine Heimspiele austrägt. Sie wurde zur Obsession. Moraes hat in den letzten 50 Jahren jedes Spiel von Flamengo besucht. Pflichtspiele wie Freundschaftsspiele. Ab 1968 war er dann auch bei so gut wie jedem Match der brasilianischen Nationalmannschaft.

So muss Moraes allein im Maracanã mehr als 2000 Spiele gesehen haben, er hat aufgehört, sie zu zählen. Aber zu vielen hat er eine Anekdote parat: Etwa wie das Stadion 1969 bei einem Match gegen Paraguay trotz seiner Größe aus allen Nähten platzte und „wir zu viert auf einem Betonsitz balancierten“. Oder wie die Flamengo-Fans in der Halbzeitpause die Kurve wechselten, weil sie hinter dem Tor des Gegners die Treffer ihres Teams erwarten wollten.

„Das Maracanã ist mein Zuhause“, sagt Moraes, und es gibt nicht viele, die das mit gleichem Recht behaupten können. So ist er also der Einladung der Verantwortlichen zur Vorbesichtigung gefolgt. Moraes weiß, dass man das Stadion vollkommen entkernt und neu aufgebaut hat. Doch mit dem, was er nun erblickt, rechnet er nicht.

„Wir traten in den Innenraum ...“, erzählt er über den Moment des Wiedersehens. Seine Stimme stockt. „Ich musste weinen“, sagt er dann, „meine Knie zitterten und ich wandte mich ab. Ich ertrug den Anblick nicht. Was hatten sie mit unserem Maracanã gemacht?“

Moraes schaute in ein geschrumpftes Stadion mit bunten Sitzen, Luxuslogen und einer riesigen Medientribüne. Nichts erinnerte mehr an das majestätische Rund, das er kannte. „Sie haben es in eine Arena wie jede andere verwandelt“, sagt er, „ohne Geschichte, ohne Charakter. Früher war das Maracanã für die Fans da, heute ist es für Fußballkonsumenten.“

Ein paar Wochen später scheint Moraes über den Schock hinweg zu sein. „Man gewöhnt sich an alles“, sagt er. Das Treffen mit ihm findet an einem sonnigen Morgen an Rios Lagune statt. Moraes joggt hier jeden Tag, das hält ihn fit. Er ist klein, drahtig und hat ein freches Lachen. Und natürlich trägt er das rot-schwarze Trikot Flamengos. „Der eine verliert seine Frau“, sagt er an diesem Tag, „der andere sein Zuhause. Also arrangiert man sich.“

Auf seiner Homepage hat Moraes trotzdem einen Text über die „Elitisierung des Fußballs“ verfasst: „Wer erinnert sich nicht an die Stehplätze für 50 Centavos? Wer denkt nicht zurück an die Bettler vor den Eingängen, die immer genug bekamen, um dabei zu sein? Jetzt haben wir verloren.“ Die Tickets im neuen Maracanã würden durchschnittlich 80 Reais kosten. Das Geld, knapp 30 Euro, werde er lieber sparen, sagt er. „Fußball ist Luxus geworden. Das Volk ist beschissen worden.“

Der Ort eines nationalen Traumas

Man hört diese Klage zurzeit oft in Rio. Die Stadt werde für die Profitinteressen einiger weniger zugerichtet. Die Bevölkerung werde nicht in Entscheidungen eingebunden, sondern mit intransparenten Beschlüssen konfrontiert, für deren Folgen sie zu zahlen habe. Stellvertretend für diesen autoritären Regierungsstil steht das Maracanã. Es ist ein Symbol, dem man die Bedeutung geraubt hat.

Wie kann man das Nichtbrasilianern erklären?

Als das Stadion zur Weltmeisterschaft 1950 eröffnet wurde, lag Europa in Trümmern, und Brasilien fühlte sich als das Land der Zukunft. Das hieß neben technischem Fortschritt: Demokratie. 10 000 Arbeiter hatten das Maracanã in zwei Jahren hochgezogen, ein perfektes Rund, denn jeder sollte gleich gut sehen können. Und jeder sollte Zugang haben. Das Stadion bot 180 000 Menschen auf einem gigantischen Ober- und einem Unterring Platz – ein Zehntel der Bevölkerung Rios.

Welt aus Plastik: Blick ins umgebaute Maracana-Stadion.
Welt aus Plastik: Blick ins umgebaute Maracana-Stadion.

© kpl

Selbst der Standort in dem Stadtteil, mit dem es jeder identifiziert, bedeutete Einbindung. Das Viertel Maracanã bildet die Schnittstelle zwischen dem reichen, weißen Süden Rios und dem ärmeren, dunkelhäutigen Norden. Ein Stadion als Klammer.

Die Franzosen hatten den Eiffelturm, die Amerikaner die Freiheitsstatue und die Brasilianer besaßen jetzt das Maracanã: die mit Abstand größte Sportstätte der Welt, ein modernes Kolosseum, eine Bühne für das Drama des Fußballs. Brasiliens einflussreicher Sportjournalist, Mário Filho, dessen Namen das Stadion offiziell trägt, kommentierte: Mit dem Maracanã ist der schlafende Riese in der Seele des Landes erwacht.

Nur eins fehlte 1950 noch zum Glück: die WM-Trophäe. Die Brasilianer glaubten, sie schon in den Händen zu halten, denn mit Leichtigkeit hatte die Seleção, die brasilianische Auswahl, ihre Spiele gewonnen. Nun würde gegen das kleine Uruguay ein Unentschieden reichen, um Weltmeister zu werden. 200 000 Menschen drängten sich am 16. Juli 1950 ins Maracanã, um zu erleben, wie Brasilien auch sportlich seinen Platz unter den großen Nationen einnehmen würde. Doch dann schoss Uruguay zwölf Minuten vor Schluss das 1:2.

Die Nation stürzte in eine kollektive Depression. Das Gefühl verbreitete sich, eine historische Chance verpasst zu haben. Ein Gefühl des Versagens, für das man zunächst Nationaltorwart Barbosa verantwortlich machte. „Ein Mörder kriegt 20 Jahre“, sagte er, „ich habe lebenslänglich.“ Bei erster Gelegenheit kaufte er die alten Torpfosten des Stadions und verbrannte sie. Als „größte Tragödie der brasilianischen Neuzeit“ hat der Anthropologe Roberto da Matta die Niederlage bezeichnet. Alle weiteren Turniere seien der Versuch gewesen, sie ungeschehen zu machen. Gelang der Sieg, war der Teufel ausgetrieben. Gelang er nicht, hatte man erneut versagt.

Die Mutter aller Niederlagen ging als „maracanazo“ in den Sprachgebrauch ein. Aber das Maracanã erlebte fortan glücklichere Momente. Und Leovegildo Lins da Gama hat sie noch in guter Erinnerung. Die Welt kennt diesen Mann als Júnior. 1974 betrat er erstmals als Spieler das Maracanã, und „der Traum jedes Fußballers ging für mich Erfüllung. Da war diese große Grandiosität“. Júnior sagt tatsächlich „grande grandiosidade“.

Die Fans schrien ihm zu, "wir haben's dir doch gesagt".

Er empfängt in der Wohnung seiner Mutter an der Copacabana, er ist hier groß geworden, hat am Strand das Kicken gelernt. Der 58-Jährige ist braun gebrannt, er trägt immer noch seinen markanten Schnauzer, hat Jeans und ein Sweatshirt an, wirkt topfit. 857-mal stand Júnior für Flamengo als Verteidiger auf dem Feld – niemand hat mehr Partien für den Verein bestritten. Mindestens 600 davon, so schätzt Júnior, im Maracanã. 70-mal spielte er auch für Brasilien. 1982 schoss er bei einem Freundschaftsspiel gegen Deutschland im Maracanã den herrlichen 1:0-Siegtreffer. Er erzählt wie Horst Hrubesch in der Pause ein Sandwich aß und eine Cola trank, „das war schon ungewöhnlich“.

Bei den Weltmeisterschaften 1982 und 1986 war Júnior dann Teil des Traumteams um Sokrates und Zico. Es gilt als eins der besten Nationalteams Brasiliens. Und als eins der erfolglosesten. „Wir spielten schön“, sagt Júnior, „vielleicht zu schön.“

Júnior fand Trost im Trikot von Flamengo, „meiner zweiten Haut“. Er erinnert sich, wie die Fans bei Eckbällen im Maracanã vier Meter neben ihm standen und riefen: „Júnior, auf den ersten Pfosten!“ Und wenn der Ball dann im Tor landete: „Wir haben’s dir ja gesagt!“ Aber das verstehe keiner, der es nicht erlebt habe.

Bis zum großen Eröffnungsmatch im Maracanã fehlen da noch wenige Tage. Dennoch hat Júnior, der Fußballmoderator geworden ist, schon ein Testspiel mit den Ex-Cracks Ronaldo und Bebeto gemacht. Dabei hat er festgestellt, dass ihm die neue Arena gefällt. „Sie ist modern und der Rasen schnell“, sagt er, „aber es ist natürlich nicht mehr das Gleiche. Die Gänsehaut ist weg.“

2007 wurde Brasilien vom Fußballweltverband Fifa zum Austragungsort der WM 2014 bestimmt. Nachdem das Maracanã bereits 1999 und 2005 modernisiert worden war, sollte der Umbau diesmal radikal sein. 2010 begann die Demontage, bei der nur das äußere Skelett stehen blieb und die charakteristischen Ober- und Unterringe verschwanden. Die Neugestaltung verlangte die Verkleinerung des Spielfelds von 110 mal 75 Metern auf 105 mal 68. Auch das Betondach trug man ab und ersetzte es durch eine Überspannung aus Fiberglas und Teflon. Stehplätze waren nicht mehr vorgesehen. Dafür plante man 125 Vip-Logen: je 50 Quadratmeter groß, klimatisiert, mit Bad, Bar und Terrasse. Das Stadion fasst jetzt noch 78 838 Menschen.

Letzte Hand. Bauarbeiter im Stadion kurz vor dem Eröffnungsspiel gegen England.
Letzte Hand. Bauarbeiter im Stadion kurz vor dem Eröffnungsspiel gegen England.

© AFP

Weil die Fifa für Stadien mit einer Kapazität von 60 000 Zuschauern 10 000 Parkplätze verlangt, sollen auch alle auf dem Stadiongelände befindlichen Bauten weichen: ein Athletik- und ein Schwimmstadion, die Escola Arthur Friedenreich, eine der zehn besten öffentlichen Schulen des Landes, und das historische Museum des Indianers, das allerdings – nach heftigen Protesten – nun doch erhalten bleiben soll. Es wird ein „Olympiamuseum“ beherbergen.

„So funktioniert Rio de Janeiro“, sagt Gustavo Mehl. Der 30-Jährige schwenkt eine Fahne vor dem Palast der Landesregierung. Darauf heißt es: „O Maraca é nosso“ – Das Maracanã ist unser. Mehl ist Stadtforscher und Sprecher des „Volkskomitees zu WM und Olympia“, einer Allianz so gut wie aller Bürgerbewegungen der Stadt. Mit einem Dutzend Mitstreiter demonstriert er an diesem Morgen gegen die Privatisierung des Maracanã-Komplexes. Vergeblich.

Der Zuschlag ist wenige Minuten zuvor an ein Konsortium um Brasiliens Baukonzern Odebrecht gegangen. Auch Brasiliens reichster Mann, Eike Batista, ist an der Unternehmung beteiligt und so gut wie immer dabei, wenn in Rio öffentliche Orte privatisiert werden, weswegen sein Name zum Synonym für den Ausverkauf der Stadt geworden ist.

Als Rios Regierung den Umbau des Maracanã-Stadions verkündete, versprach sie, diesen mit privatem Geld zu finanzieren. Dann aber flossen fast ausschließlich Steuergelder. Die anfänglich veranschlagten Kosten von 600 Millionen Reais verdoppelten sich auf 1,2 Millionen Reais, was 460 Millionen Euro entspricht. „Und jetzt darf Eike Batista das Maracanã für 5,5 Millionen Reais Jahrespacht betreiben“, sagt Gustavo Mehl. „Wir schenken ihm ein neues Stadion und legen mehrere hundert Millionen obendrauf.“

Mehl war als Dreijähriger zum ersten Mal im Maracanã. „Jeder in Rio hat eine Geschichte, die ihn mit dem Stadion verbindet“, sagt er. „Es gehörte dem Volk. Jetzt gehört es Eike.“

Dann der Abend des Einweihungsspiels am vergangenen Sonntag. Martin Curi steht auf der Pressetribüne. Der deutsche Fußballsoziologe lehrt an der staatlichen Universität von Rio und hat das Buch „Brasilien – Land des Fußballs“ veröffentlicht. Er ist überrascht, dass das Maracanã nicht ausverkauft ist, lediglich 57 000 zahlende Zuschauer sind gekommen, um Brasilien gegen England zu sehen. Es mag am zuletzt schwachen Auftreten der Seleção liegen. Oder an den hohen Eintrittspreisen. Diejenigen, die gekommen sind, werden von Fifa-Animateuren aufgefordert, Plastikbälle gegeneinanderzuschlagen, aber während des Spiels ist es dann minutenlang still. „Bei Länderspielen ist das typisch“, sagt Curi. „Da kommt ein Publikum mit Anspruchshaltung.“

Das neue Stadion hält Curi für gelungen: „Man kommt schnell hinein, ist nah am Spielfeld. Alles ist heller, luftiger, leichter.“ Die Bewährungsprobe erlebe das neue Maracanã aber erst bei den Ligaspielen nach dem Confederations Cup, der an diesem Samstag startet.

Am Tag nach dem England-Match, das 2:2 endet, erscheint im Internetportal der Zeitung „O Globo“ ein Leserkommentar: „Wenigstens hat das Gesocks aus den Favelas dank der Eintrittspreise keinen Zugang mehr zum Maracanã. Sonst wäre das Stadion schon kaputt. Optimal.“

Francisco Moraes sagt: „Ich werde mich in mein neues Heim erst noch einleben müssen.“

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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