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Panorama: Gefilzt und ausgeraubt

Für türkische Gastarbeiter wird die Urlaubsfahrt in die Heimat immer mehr zum Horrortrip

Von Susanne Güsten, Istanbul

In der Türkei enden in diesen Tagen die Sommerferien, die Rückreisewelle der Gastarbeiter nach Westeuropa erreicht ihren Höhepunkt. Mehr als zehn Kilometer stauen sich ihre Autos vor den türkischen Grenzübergängen, bis zu 18 Stunden warten die heimkehrenden Urlauber auf die Ausreise. Ein älterer Mann starb am vergangenen Wochenende in der Warteschlange am Herzinfarkt, doch für die meisten Gastarbeiter beginnt die Tortur hier erst. Korrupte Beamte und Kriminelle auf dem Balkan haben es zum regelrechten Saisongeschäft gemacht, die Gastarbeiter bei der Durchfahrt zu filzen.

Hunderte Euro werden jeder Familie unterwegs abgepresst, Autobahn-Banden überfallen die Durchreisenden. „Die Strecke ist die reine Folter", stöhnt der Gastarbeiter Selahattin Karaman, der seit 22 Jahren jeden zweiten Sommer von Deutschland in die Türkei fährt. „Wir werden behandelt wie Vieh." Rund eine Million türkische Gastarbeiter machen jeden Sommer den Treck aus Westeuropa in die Heimat. Aus Kostengründen nehmen die meisten Familien den Landweg und fahren insgesamt 4000 bis 6000 Kilometer mit dem Auto. Mit Kind und Kegel und bei sommerlicher Hitze ist das ohnehin kein ungetrübtes Vergnügen; zum Horrortrip wird die Fahrt inzwischen aber, weil die relativ wohlhabenden Gastarbeiter in den Durchfahrtsländern als sprudelnde Quellen illegaler Zusatzeinnahmen entdeckt worden sind.

„Mit dem Schmiergeld, das mir alleine in Bulgarien abgeknöpft worden ist, hätte ich ein Flugticket bezahlen können", empörte sich der Gastarbeiter Sefer Akyüz aus Österreich bei seiner Ankunft an der türkischen Grenze. „Das ist glatter Raub", beschwert sich Erdogan Girgin aus Holland, der 250 Euro bei korrupten Beamten in Bulgarien gelassen hat. Schon bei der Einreise müssen durchreisende Türken oft bis zu 200 Euro hinlegen, damit ihre Grenzformalitäten überhaupt erledigt werden. Was danach übrig ist, holt sich die Polizei, die angehaltenen Autofahrern die Wahl zwischen einem Strafzettel und einem niedrigeren Bakschisch gibt. „Ich wechsele vor der Abfahrt in Deutschland 300 Euro in kleinere Scheine, um unterwegs die nötigen Schmiergelder parat zu haben", sagt der streckenerfahrene Gastarbeiter Yusuf Özbas aus Dortmund.

Noch schlimmer als die Korruption ist das Banden-Unwesen an der Autobahn in Bulgarien. Mindestens 50 spezialisierte Autobahnräuber sind nach Angaben des bulgarischen Innenministeriums an der Strecke in die Türkei aktiv. Teils als Polizisten verkleidet, teils mit fingierten Unfällen halten sie türkische Gastarbeiter an – am liebsten auf dem Weg in die Türkei, wenn sie oft ihre Jahresersparnisse dabei haben. Weil die Banden gezielt zuschlagen, wird vermutet, dass sie Tipps vom türkischen Zoll bekommen, dem die Durchreisenden ihre Devisen melden müssen. Brutal sind sie außerdem: Ein türkisches Ehepaar aus Deutschland wurde kürzlich von maskierten Räubern in den Kofferraum seines Mercedes gesperrt, während seine Kinder auf den Rücksitz gefesselt wurden.

Die türkische Regierung empfiehlt ihren Bürgern inzwischen offiziell, sich bei der Durchfahrt durch Bulgarien zu Konvois zusammenzuschließen und das Leitfahrzeug mit Satellitenortungssystem (GPS) und Funk auszustatten; die GPS-Geräte mit Funkverbindung zur Polizei und „Panikknopf" sind an den bulgarischen Grenzübergangsstellen für rund 100 Euro anzumieten. In der türkischen Presse wurde diese Empfehlung schon um den Rat angereichert, den Konvoi auch zu bewaffnen. Viele Gastarbeiter stimmen mit dem Reifen ab und nehmen hunderte Kilometer Umweg in Kauf, um einen Bogen um Bulgarien zu schlagen. Problemlos ist das allerdings auch nicht: In Mazedonien etwa wird den türkischen Gastarbeitern an den Mautstellen das Fünffache der offiziellen Autobahn-Gebühren abgeknöpft, wie türkische Reporter am eigenen Leib erfuhren. Und wer über Jugoslawien fährt, statt nach Italien überzusetzen, kommt auch nicht schneller an: „30 Stunden haben wir an der jugoslawischen Grenze warten müssen", berichtet Erdal Sahin aus Holland. Auf 36 Stunden hat es Sefer Akyüz dort sogar gebracht: „Aus reiner Willkür lassen sie einen dort warten, und natürlich wollen sie Geld." Nicht einmal das eigene Vaterland macht es den Heimaturlaubern leicht.

Weil viele Gastarbeiter nicht mehr über Bulgarien fahren, hat sich der Verkehr an der türkischen Grenze mit Griechenland verfünffacht. Auf einer einzigen Spur stauen sich bis zu zehntausend Autos, Lastwagen und Reisebusse, während die Grenzbeamten die Fahrgestellnummern der Wagen überprüfen. Inzwischen braten Großfamilien in ihren Autos, schlafen am Straßenrand und müssen ihre Notdurft im Gebüsch verrichten. „Seit 27 Jahren schicke ich meine hart verdienten Devisen in die Türkei, aber unsere Regierung tut nichts für uns", schimpft Erdogan Girgin. Und Selahattin Karaman verflucht seine Vaterlandsliebe: „Seit 22 Jahren schwöre ich jedes Mal: nie wieder!", sagt Karaman. „Aber dann werde ich doch wieder schwach."

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