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Gentrifizierung am Goldenen Horn: Das Tor zu Istanbul

Im zentral gelegenen Viertel Tarlabasi kamen sie erst mal unter: Zuwanderer aus Anatolien und Afrika, Transvestiten und Drogendealer. Nun drohen Abrissbirne und edle Neubauten. Nicht alle finden das schlimm.

Plötzlich geht alles ganz schnell. Im Morgengrauen steht Mehmet Öczelik am Küchenfenster und sieht einen Trupp Bauarbeiter im Anmarsch. Wortlos und routiniert packen sie Schweißgeräte aus und befestigen eine drei Meter hohe Aluminiumwand vor der gegenüberliegenden Fassade. Diese silbernen Gürtel (Foto oben rechts) zieren nun jene Blocks in Tarlabasi, die bald fallen sollen.

Mehmet Öczelik bleibt nicht mehr viel Zeit. Das Haus, in dem der 45-jährige Müllsammler mit seiner Frau und seinen fünf Kindern lebt, bleibt zwar noch ein wenig stehen, vielleicht ein, zwei Wochen. Doch das Nachbarhaus, in dem schon niemand mehr wohnt, wird bis zum Abend verrammelt sein – und mit ihm der Zugang zu Öczeliks kleiner Sortierstelle: Brüchiges Spanholz, klammes Altpapier, verknoteter Metallschrott und schmutzige Säcke voller platt gedrückter Plastikflaschen stapeln sich in einem muffigen Kellerraum bis unter die Decke.

Jetzt muss alles in wenigen Stunden raus, die Nachbarn packen mit an. Doch wohin damit? „Mal sehen“, sagt Mehmet Öczelik und wuchtet einen alten Heizkörper auf die Ladefläche seines roten Kleinlasters.

Und wo wird seine Familie leben, wenn ihr Haus dran ist? Öczelik zuckt mit den Schultern. Mal sehen.

Im Herzen von Istanbul, ein paar Schritte vom berühmten Taksim-Platz entfernt, mischt sich das Stakkato von Drucklufthämmern unter das Dröhnen endloser Autoschlangen. 269 Häuser werden binnen weniger Monate planiert, um Platz zu schaffen für einen Investorentraum. Große Werbetafeln am Tarlabasi-Boulevard versperren den Blick auf die Riesenbaustelle – und erlauben zugleich den in die Zukunft des Viertels. Die Illustrationen zeigen Büros, Boutiquen und großzügige Apartmentkomplexe, wo heute schmale, von Erkern gespickte Stadthäuser das Bild prägen.

An die klassisch-levantinische Kultur erinnern allenfalls noch stilistische Zitate. Verschwunden sind in diesem Disneyland auch die bunt geschmückten Wäscheleinen, die heute noch über jeder Gasse baumeln. Verschwunden auch der Müll, der sich in den Ecken stapelt und der Stadt zu einem willkommenen Argument für die „Unregierbarkeit“ Tarlabasis wurde. In Tarlabasi, wo heute Kurden und Roma, Tagelöhner und Transvestiten, Illegale aus Vorderasien und Afrika leben, soll in vier Jahren die Schickeria einziehen. Quadratmeterpreis der Wohnungen: 6000 Euro plus Steuern.

Um die kompromisslose Erneuerung auf den Weg zu bringen, schuf die Regierung 2005 eigens ein Gesetz, das den Denkmalschutz außer Kraft setzt und Hauseigentümer zum Verkauf zwingt. Seither werden sanierungsbedürftige Viertel auf den Prüfstand gestellt. Das Romaviertel Sulukule wurde nach Protesten abgerissen, ebenso wie Ayazma und Tepeüstü, wo mehrheitlich Kurden lebten. Wer es sich leisten kann, zieht in eine der Trabantenstädte, die rund um Istanbul aus dem Boden gestampft werden.

Soziales Gefüge, Nähe zum Job – ade. Rund 50 solche „Urban Renewal Areas“ zählt die Stadt. Wie viele Gebäude abgerissen und neu gebaut oder saniert werden, ist ungewiss, Schätzungen sagen: bis zu eine Million. Offizielle Stellen nennen den Erdbebenschutz als Grund für den Radikalumbau, doch das ist nur eine Seite der Wahrheit.

Istanbul, die Brücke zwischen Europa und Asien, ist auf dem Weg zur Megacity. Zur Jahrtausendwende lebten neun Millionen Menschen in der Stadt, heute sind es schon mehr als 13 Millionen. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat den weiteren Ausbau der laut „Newsweek“ „coolsten Stadt Europas“ zur Chefsache erklärt.

Doch nicht nur Unternehmen, Investoren, Akademiker, Künstler und Touristen suchen ihr Glück in der Stadt, in der noch so viel möglich scheint, weil so viel ungeordnet ist. Die Stadt wirkt nach wie vor auf Landflüchtlinge aus Anatolien wie ein Magnet, hinzu kommen jährlich tausende Menschen aus Asien, Afrika oder Nahost, die sich auf der Suche nach einem besseren Leben auf den Weg nach Europa gemacht haben und zunächst am Bosporus stranden. Die meisten leben in den „Gecekondus“, provisorischen Siedlungen am Stadtrand. Doch auch die Viertel im Zentrum entwickelten sich zu Ankunftshäfen.

Mehmet Öczelik war elf, als seine Eltern der Armut in Anatolien entkamen und in Tarlabasi ein Zuhause fanden. In der Großstadt wurden die Bauern zu Tagelöhnern, jeder musste mit anpacken, auch Mehmet. Er arbeitete als Botenjunge, half in Imbissen und beim Barbier aus. Frisch verheiratet machte er sich als Müllsammler selbstständig. „Seither bin ich mein eigener Herr“, sagt er stolz. Er sparte Geld für einen Lkw, mit dem er Schrott von den Deponien holt und ihn sortiert zu Recyclinghändlern fährt. Das Geld reicht, um die Familie zu ernähren.

Es sind Geschichten wie diese, die der britisch-kanadische Journalist Doug Saunders in seinem Buch „Arrival City“ beschreibt. Die Armut in der Provinz spült die Menschen vom Land in die Megastädte, wo sie zunächst nur schwer Fuß fassen. In der zweiten Generation schafft es ein Teil, sich am eigenen Schopf aus dem Elend zu ziehen. Die dritte Generation schließt oft sogar schon die Schule ab, die Ankunftsstadt wird zum Startblock für sozialen Aufstieg. Wie fragil diese Karrieren sind, wie verwundbar diese Biografien bleiben, zeigt derzeit die Entwicklung Tarlabasis.

Es ist nicht der erste Exodus, den das Viertel erlebt. In den 1920er Jahren, mit der Gründung der Türkischen Republik, begann die Vertreibung der Griechen, Armenier und Juden, die sich als Handwerker, Händler und Hausangestellte niedergelassen hatten. Bis Mitte der 1950er Jahre waren die meisten von ihnen geflohen, ihre Wohnungen und Werkstätten wurden von den Neuankömmlingen aus Anatolien bezogen. Vereinzelte Kreuze, die zwischen Schornsteinen und Satellitenschüsseln in den Himmel über Tarlabasi ragen, erzählen von der alten Vielfalt. Heute reisen Besucher der orthodoxen Kirchen von weit her zur Messe an.

Überhaupt stehen die Gotteshäuser mit ihren polierten Gehwegen und geschrubbten Fassaden wie Fremdkörper in einem Viertel, das sich seit 30 Jahren im freien Fall befindet. Von Stadtplanern systematisch vernachlässigt, wurde aus dem geschäftigen Quartier ein Ort der Hoffnungslosigkeit „Sollen sie das doch alles plattmachen“, sagt Mehmet Sönmez. Der 54-jährige Schneider erkannte früh, dass es bergab geht mit Tarlabasi. Er las den Niedergang an den Hosen ab, die man ihm zur Reparatur brachte. Die edlen Stoffe, die noblen Schnitte wurden rarer und verschwanden schließlich ganz. Billigware machte sich breit.

„Wir leben hier inmitten von Drogen, Prostitution, Gewalt. Dieses Viertel kann nur profitieren von der Erneuerung“, sagt er. Sein Laden liegt ein paar Straßen neben dem Kerngebiet der Sanierung, in jener Gegend also, von der sich die Stadtplaner viel erhoffen: dass durch das Bauprojekt Privatinvestitionen angelockt werden. Und wenn diese tatsächlich kommen? Wird Mehmet Sönmez seinen Laden behalten dürfen? „Das erlebe ich doch gar nicht mehr“, sagt er.

Die Stadt hat ein leichtes Spiel mit Tarlabasi. Kaum jemand, der hier lebt, hat je gelernt, für seine Rechte einzutreten. Zudem sind die Bewohner zu verschieden voneinander, als dass sie mit einer Stimme sprächen.

Verschleierte Kurdinnen sitzen in Hauseingängen und blicken Transvestiten nach, die Arm in Arm gen Tarlabasi-Boulevard staksen. Illegale aus Angola oder dem Kongo schlendern am liebsten in Kleingruppen durchs Viertel, weil es immer wieder vorkommt, dass sie von türkischen Jugendlichen angegriffen werden.

Und dann sind da noch die Mittzwanziger, die – Gel in den Haaren, Goldkettchen um den Hals – an den Straßenecken stehen und Drogen verkaufen. „Na, Jungs!“, grüßt einer von ihnen auf Deutsch, als er Passanten so sprechen hört. Mustafa, Mitte 20, Sohn türkischer Eltern, ist in Deutschland geboren und vor ein paar Jahren in die Türkei abgehauen. „Stress mit der Kripo“, kommentiert er lapidar. Als er ankam, sprach er kaum Türkisch. Es ist kein Zufall, dass er hier steht, in Tarlabasi, diesem Ort, der Entwurzelten ein Zuhause bietet, ihnen aber schon lange nicht mehr eine bessere Zukunft verspricht.

„Der Anfang vom Ende für das Viertel war der Tarlabasi-Boulevard, den sie in den 80er Jahren gebaut haben“, sagt Yasar Adanali. Büchertürme umringen den Schreibtisch des 31-jährigen Stadtforschers. Er ist kürzlich umgezogen, und die Regale wurden noch nicht geliefert, also stapelt sich seine Bibliothek auf dem Fußboden wie eine Miniatur-Skyline. Um zu veranschaulichen, was er meint, klappt er einen Touristenplan auf und deutet auf die vielen Symbole rund um die Istiklal, Istanbuls größte Einkaufsmeile: Blusen, Cocktailgläser und gekreuztes Besteck. Boutiquen, Bars und Restaurants locken täglich zwei Millionen Menschen in die Straßen südlich des Boulevards. Wenige Schritte entfernt, jenseits der achtspurigen Verkehrsachse, findet sich kein einziges Symbol. Das Viertel existiert für Touristen nicht, und sollte sich doch einer hierher verirren, wird er sofort von Passanten gewarnt. „Don’t go there!“ Nachts, heißt es, halten sich selbst die Polizisten fern.

„Der Boulevard ist ein Sinnbild dafür, wie diese Stadt Integration verhindert und Segregation fördert“, sagt Yasar Adanali, der an der Universität Stuttgart eine Doktorarbeit zum Thema „Raum und Demokratie“ schreibt. Als Souvenir hat er einen Sticker der Protestbewegung gegen „Stuttgart21“ vom Neckar mitgebracht und an eine Tafel in seinem Büro geheftet. Sein eigener Kampf gilt der Trennung von Arm und Reich, die in seiner Heimatstadt rasant voranschreitet.

In Blogs dokumentiert er den Prozess, gemeinsam mit Kollegen hat er die Pläne der städtischen Wohnungsbaugesellschaft TOKI veröffentlicht und kommentiert. Zu sehen ist das Istanbul der Zukunft, eine Stadt, in der die Wohlhabenden im Zentrum und an der Küste leben, während Arbeiter und Angestellte gigantische Wohnsilo-Parks im Hinterland bevölkern. Eine schöne neue Welt.

Die Kräfte der Gegenwart zerren am alten Istanbul. Seit Jahrhunderten eine Metropole, muss die Stadt auf den Massenzuzug reagieren. Und erfindet sich dabei neu. Die Politik setzt auf klare Verhältnisse, auf Bulldozer statt sozial und ökologisch verträgliche Entwicklung, auf Explosion statt auf Wachstum. Der Mensch ist in dieser Rechnung längst zu einem beliebig verschiebbaren Posten geworden, zur Verfügungsmasse für eine Allianz aus Volksvertretern und Investoren.

Fragt man Mehmet Öczelik, was er vom Abriss hält, reagiert der Schneider wie so viele Menschen hier. Er wiederholt die Argumente der Offiziellen: „Dieses Viertel ist ein Krebsgeschwür, es muss weg.“ Aus ihm spricht die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Vielleicht das Einzige, was man diesen Menschen, für die die Flucht zu einer zentralen Erfahrung gehört, nicht nehmen kann.

„Das alles hat mit einer gesunden Stadtentwicklung wenig zu tun“, sagt Yasar Adanali. Er steht dem Umbau der Stadt noch aus einem anderen Grund kritisch gegenüber: „Der Boom, den die Türkei derzeit erlebt, ist vor allem ein Bau-Boom.“ Die europäische Wirtschaftskrise habe aber gelehrt, wie gefährlich es ist, sich derart abhängig von Immobilieninvestitionen zu machen.

Sollte dieser Motor ins Stocken geraten, könnten Istanbuls Träume platzen. Tarlabasi wird dann zwar schon nagelneu sein. Vielleicht aber menschenleer.

Mathias Becker

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