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Geschichte: Ludwig 2.0

Bayerns König war ein Pionier des Virtuellen – und schuf Traumlandschaften, nur für sich allein. Vor 125 Jahren starb er einen mysteriösen Tod.

Auf den Bergen wohnt die Freiheit

auf den Bergen ist es schön

wo des Königs Ludwig Zweiten

alle seine Schlösser stehn.

— König-Ludwig-Lied, 1. Strophe

altes Volkslied, Verfasser unbekannt

Wenn Franzosen heute das prächtigste Treppenhaus von Versailles sehen wollen, müssen sie in die bayerische Provinz fahren. Denn das Original, die Gesandtentreppe nebst Wandgemälden und einem Brunnen, wurde schon 1752 abgerissen. Doch sie erstand wieder auf, noch ein wenig glanzvoller sogar – 130 Jahre später, tausend Kilometer weiter östlich.

Auf der Herreninsel im Chiemsee, mit Blick auf die schneebedeckten Gipfel der Alpen, ließ Bayerns König Ludwig II. von 1878 bis 1885 das Schloss seines großen Idols nachbauen. Alles sollte so aussehen wie zu Zeiten des Sonnenkönigs, Louis XIV. von Frankreich (1638-1715). Hinter der Fassade von Schloss Herrenchiemsee, die der von Versailles zum Verwechseln gleicht, liegen allerdings nur 20 fertiggestellte Räume, und 50 im Rohbau. Auch so verschlang das Projekt schon gewaltige Summen. Das Prunkschlafzimmer etwa, eine Nachbildung von Louis’ „Chambre de Parade“, galt einst als der teuerste Raum Europas. Im Zentrum des 170 Quadratmeter großen, üppig-barock dekorierten Zimmers, von dessen Decke schwere Lüster hängen, befindet sich ein Bett mit einem sechs Meter hohen Baldachin. Die Vorhänge an den Seiten sind aufwändig mit antiken mythischen Szenen bestickt und teilweise aus Gold. Allein dieses Bettarrangement kostete umgerechnet drei Millionen Euro.

Obwohl sich Ludwig II. detailversessen mit Plänen und alten Stichen von Versailles beschäftigt hatte, ist Herrenchiemsee kein reines Imitat. An manchen Stellen ist es prächtiger, luxuriöser geraten. Louis’ „Chambre de Parade“ misst zum Beispiel nur 88 Quadratmeter, ist also gerade halb so groß wie Ludwigs Prunkschlafzimmer. Kurios: Im Beratungssaal von Herrenchiemsee hängt die Kopie eines Versailler Bildes von Louis XIV. Während das Original den Sonnenkönig als alten Mann zeigt, wurde er auf Ludwigs Wunsch auf dem nachgemalten Bild jünger und schöner dargestellt. Anders als das meist kalte französische Schloss, verfügt sein bayerisches Pendant auch über eine Heizung, die damals dem neuesten Stand der Technik entsprach.

Mit Herrenchiemsee wollte Ludwig II. ein Versailles schaffen, das das echte noch übertraf. Larger than life sozusagen. Und diese Kulisse war nur für eine einzige Person bestimmt: den Bayernkönig selbst. Während Versailles der Mittelpunkt des absolutistischen Frankreichs war, während dort ein Hofstaat von mehr als tausend Menschen wohnte und Feste feierte, während Schlossherr Louis XIV. sogar aus Aufstehen („lever“) und zu Bett gehen („coucher“) ein öffentliches Spektakel machte, mochte der menschenscheue Ludwig im abgelegenen Herrenchiemsee allein sein: mit sich und einer perfekt durchinszenierten Fantasiewelt.

Schlösser kopiert und Geld zum Fenster herausgeworfen – das haben auch andere Herrscher. Aber nur Ludwig II. baute Paläste, die weder eine repräsentative noch eine politische Funktion hatten. Sondern die er besuchen konnte, wie man heute ein Kino besucht. Er gilt als „Märchenkönig“, das Wort prägte seine enge Vertraute, Österreichs Kaiserin Elisabeth alias Sisi. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Seine künstlichen, mit modernsten Mitteln geschaffenen Welten mögen an alte Sagen und vergangene Zeiten anknüpfen. Eigentlich haben sie jedoch mehr mit Hollywood gemein. Ludwig, zu Lebzeiten eher unbeliebt und heute eine Ikone, war seiner Zeit voraus. Man könnte sogar behaupten: Er erfand die virtuelle Realität und das Second Life, lange bevor es Computer gab.

Kein Wunder, dass ausgerechnet sein pseudo-mittelalterliches Neuschwanstein zum Vorbild für das Schloss in Disneyland wurde und es später ins Logo von Disney Pictures schaffte. Auf das Dach der Residenz, mitten in München, baute der „Kini“, wie er in Bayern heißt, schon im 19. Jahrhundert, was heute jedem Freizeitpark zur Ehre gereichen würde: Einen Wintergarten mit Himalaja-Landschaft, inklusive eines beheizten 269-Quadratmeter-Sees, einer Lichtanlage und einer Wellenmaschine. Hier drehte er in einem vergoldeten Kahn seine Runden.

In Herrenchiemsee wollte der König jedes Jahr zwei Wochen verbringen. Am Ende reichte es bloß für einen einmaligen Aufenthalt im Jahr 1885. Mit rund 30 Dienern quartierte er sich zehn Tage im Schloss ein, 45 000 Kerzen wurden in dieser Zeit abgebrannt. Bald darauf, im Sommer 1886, erklärte man Ludwig für verrückt, mit einer Zwangsjacke im Gepäck holten Ärzte den 40-Jährigen aus Neuschwanstein. Nur Stunden später, am Abend des 13. Juni, einem regnerischen Pfingstsonntag, ertranken der König und der Psychiater Bernhard von Gudden unter ungeklärten Umständen im Starnberger See. Auch Ludwigs Leben war kein Märchen, sondern ein modernes Drama.

Mit Bandarsch und Kloriformen

traten sie behendig auf.

Und dein Schloss musst du verlassen

und kommst nimmermehr hinauf!

– 4. Strophe

Es begann damit, dass er viel zu früh König wurde. Nur 18 Jahre war er alt, als 1864 überraschend der Vater, Maximillian II., starb. Ludwig hatte gerade das Studium in München begonnen, er wusste wenig über Wirtschaft, Staatsrecht oder Militär, er war nie ins Ausland gereist und kannte kaum Menschen außerhalb der eigenen Familie. Gemessen daran füllte er seine neue Rolle erstaunlich gut aus. Die Öffentlichkeit liebte ihn anfangs sowieso, vor allem, weil er gut aussah. Der „Adonis auf dem Throne“ war 1,91 Meter groß, von Kindheit an ein begeisteter Schwimmer und Reiter – und besorgt um sein Äußeres: Weil sein Kopf auf dem stattlichen Körper klein wirkte, wurden die dunklen, glatten Haaren mit einem Brennstab gewellt, um ihnen mehr Volumen zu geben.

Theodor Basselet de La Rosée, mehr als zehn Jahre Ludwigs Erzieher, bescheinigte seinem Zögling eine ungewöhnlich „reiche Phantasie“, aber auch ein „äußerst heftiges“ Temperament und einen starken „Eigenwillen“. Ludwig war mit der Idee aufgewachsen, später König von Gottes Gnaden zu sein – und sich damit im Prinzip alles erlauben zu können. Nicht umsonst himmelte er den absolutistischen Sonnenkönig an, ja, er verstand sich zunehmend als denjenigen, der die Tradition der Bourbonen fortführte, über den vermeintlichen Skandal der französischen Revolution hinweg. Das war natürlich eine „poetische Vorstellung“, die mit der Wirklichkeit des bayerischen Throns wenig zu tun hatte. Das Land war damals eine recht moderne, liberale Monarchie. Der König leitete zwar die Regierungsgeschäfte, tatsächlich lag die Macht aber in den Händen der Minister (die durch den Monarchen ernannt wurden), und selbst das Parlament durfte mitreden.

Von Gottes Gnaden – das bedeutete für den König auch, ein besonders vorbildliches und im christlichen Sinne sündenfreies Leben zu führen. Und diese Verpflichtung dürfte Ludwig von Jugend an schwer zu schaffen gemacht haben. Denn er war homosexuell.

Natürlich erwartete man von dem jungen König, zu heiraten und Nachkommen zu zeugen. Im Januar 1867 stürzt er sich in die Verlobung mit Sisis Schwester, Prinzessin Sophie, obwohl ihn die Gewissheit, kein Eheleben führen zu können, nach eigener Aussage „foltert“. Den Verlobungsball verlässt er schon nach zwei Stunden – um allein ins Theater zu gehen. In Panik verschiebt Ludwig den Hochzeitstermin nun immer wieder: Die Münzen, die anlässlich der Trauung ausgegeben werden sollen, müssen deshalb ein paar Mal neu geprägt werden. Ausgerechnet im Mai desselben Jahres verliebt er sich dann wohl auch noch in den königlichen Stallmeister Richard Hornig: Der blonde, vier Jahre ältere Mann wird sein Privatsekretär und langjähriger Begleiter. Es dauert trotzdem nochmal fünf Monate, bis Ludwig sich endlich dazu durchringt, seine unglückliche Verlobung mit Sophie aufzukündigen.

Die heimliche Homosexualität des Königs verstärkt seine ausgeprägte Tendenz, sich der Öffentlichkeit zu entziehen und in die Berge zu fliehen. Etwa ins königliche Schloss Hohenschwangau. Ludwig ist von Natur aus eher schüchtern, meidet Menschenmengen. Und das gesellschaftliche Leben der Haupt- und Residenzstadt München ist ihm schon lange verhasst. „Elend und betrübt“ fühlt er sich in der „unseligen Stadt“. Das hat unter anderem mit einem Mann zu tun, dem er in großer, rein platonischer Liebe zugetan ist: Richard Wagner.

Gleich nach seiner Krönung hat der König den hochverschuldeten sächsischen Komponisten nach Bayern geholt. Eine Aufführung von „Lohengrin“ war für den 15-jährigen Ludwig ein Erweckungserlebnis; er liebt die Musik von Wagners Opern und die darin verarbeiteten Sagen so sehr, dass er bereit ist, dem Komponisten alles zu geben: Geld, Logis – und ein neues Festspielhaus an der Isar.

Die Münchner sind davon wenig begeistert. Wagner gilt als Verschwender, die Leute raunen, er manipuliere den jungen, naiven König. Tatsächlich werden seine Forderungen immer dreister. 1865 droht das gesamte Ministerium mit Rücktritt, wenn Wagner nicht des Landes verwiesen wird. Ludwig, der bei einem Theaterbesuch vom Publikum ausgezischt worden war, gibt klein bei und versinkt im Unglück. Er fühlt sich einsam, missverstanden. Wagner wird zwar später zurückkehren und sein Festspielhaus in Bayreuth errichten. Aber die Entfremdung des Königs von seiner Umgebung kann das nicht rückgängig machen.

Ludwig mischt sich zu dieser Zeit noch aktiv in die Politik ein, vernachlässigt seine Aufgaben nicht. Der endgültige Rückzug in die eigenen Fantasiewelten kommt erst mit zwei Kriegen, die der erklärte Pazifist führen muss. Im ersten, 1866, verliert Bayern an der Seite Österreichs gegen Preußen. Danach sichert Ludwig in einem Geheimvertrag zu, die bayerischen Truppen im Falle eines erneuten Kriegs für Preußen kämpfen zu lassen. Nur vier Jahre später ist es soweit, und die Armee des frankophilen Bayernkönigs schlägt – gemeinsam mit Bismarcks Norddeutschem Bund, mit Baden und Württemberg – die Franzosen.

Der Triumph von 1870/71 bringt zugleich die Einigung Deutschlands. Ludwig beugt sich politischem Druck und willigt in das Unvermeidliche ein: Bayern wird Teil des neuen Reichs, der König verliert seine Souveränität. Er ist es sogar, der in einem von Bismarck diktierten Brief Preußens König bittet, die Kaiserkrone anzunehmen. Dafür bedankt sich Bismarck später mit über fünf Millionen Mark, die geheim in die Hofkasse fließen.

Der Doktor Gudden und der Bismarck,

den man auch

„den Falschen Kanzler“ nennt,

sie hab’n ihn in’n See ’neig’steßen,

indem sie ihn von hint’ ang’rennt.

– 7. Strophe

Auch wenn Ludwig II. keine Wahl hatte, so empfindet er das Geschehen doch als Erniedrigung und begibt sich von nun an in eine Art innere Emigration. Und damit gewinnt sein Bedürfnis, virtuelle Welten zu erschaffen, in die er vor der unangenehmen Realität fliehen kann, mehr und mehr an Bedeutung. Was Ludwig dabei erreicht, ist eindrucksvoll, aber eben auch sehr teuer.

Und der König denkt trotz steigender Schulden nicht daran, aufzuhören. Er baut Schloss Linderhof, Schloss Neuschwanstein und schließlich Schloss Herrenchiemsee – und plant schon das nächste Projekt, eine Burg im Ostallgäu. Zwar unterschreibt er noch relativ regelmäßig Dokumente, verweigert aber jeden öffentlichen Auftritt. Spätestens mit Beginn der 1880er Jahre hat er sich so stark zurückgezogen, dass selbst Minister ihn kaum mehr zu Gesicht bekommen. Und er wird immer wunderlicher: Steht abends auf, fährt nachts auf einem romantischen Schlitten – dem ersten elektrisch beleuchteten Fahrzeug der Welt –, geht bei Morgengrauen zu Bett. Schlaflosigkeit und Zahnschmerzen setzen ihm zu, aus dem schönen Kronprinzen ist ein früh gealterter, dicker Mann geworden.

Als die Schulden bei 14 Millionen Mark stehen, beschließen Regierung und Ludwigs Onkel Luitpold, den König zu beseitigen. Ein Gutachten soll beweisen, dass er psychisch krank ist. Dieses Gutachten ist, wie man heute weiß, unhaltbar: Ludwig ist exzentrisch, geistesgestört ist er nicht.

Dass man ihm seine Freiheit nehmen will, erschüttert den König wohl so sehr, dass er sich im Starnberger See umbringt. Psychiater Dr. Gudden, der den Patienten beim Spaziergang begleitet, versucht ihn davon abzuhalten – und ertrinkt ebenfalls. So lautet jedenfalls die wahrscheinlichste Version. Bis heute halten sich aber Verschwörungstheorien, die unterstellen, der König sei umgebracht worden.

So scheu Ludwig war, so einsam er starb: Am Ende kehrt er zu den Menschen zurück. Als seine Leiche vom 16. bis 18. Juni 1886 in München aufgebahrt wird, ist der Andrang riesig. Kurz darauf kann jeder gegen Eintritt des Königs Schlösser besichtigen, der neue Monarch Luitpold will allen beweisen, wie krank sein Neffe war. Doch die Leute sind stattdessen beeindruckt, und mit den Jahren kommen immer mehr. Dem „Kini“ selbst hätten diese Menschenmassen in seinen Schlössern wohl ganz und gar nicht gefallen.

Nun, hier ruhst du, edler König,

in dem stillen Erdgeschoss,

hoch da droben kannst du nicht mehr

auf dein väterliches Schloss.

– 12. Strophe

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