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Gesundheit: Alles auf Zucker

Viele Ärzte und Pfleger auf den Stationen sind nicht auf die besonderen Bedürfnisse von Blutzuckerpatienten eingestellt. Das Jüdische Krankenhaus in Wedding wurde jetzt als erste Klinik in Deutschland als „diabetesgeeignet“ zertifiziert.

Reiner Tippel ist Diabetiker. Die Krankheit begleitet den 59-Jährigen seit seiner Kindheit. Wegen der Langzeitschäden, die hohe Blutzuckerwerte hervorrufen, wurde er vor etwa acht Jahren in einem Berliner Krankenhaus wiederholt am Auge operiert. Mit der chirurgischen Leistung war er sehr zufrieden, erzählt Tippel. Aber auf seine Bedürfnisse als Diabetiker waren Personal und Ärzte wenig vorbereitet. „Eine halbe Stunde habe ich mit Chef- und Oberarzt und dem Anästhesisten diskutiert, damit ich während der Narkose meine Insulinpumpe behalten kann“, erzählt er. Die Pumpe versorgt ihn kontinuierlich mit Insulin und schützt vor Überzuckerung. Aktiv auf ihn als Diabetiker eingegangen sei man eigentlich nur bei der Essensfrage. Aber: „Ich musste das Personal über veraltete Diätvorstellungen aufklären.“

Fast jeder dritte Krankenhauspatient hat wissentlich oder unwissentlich Diabetes. Entgleiste Blutzuckerwerte können nicht nur die Genesung verzögern, sondern auch zu ernsten Komplikationen bei Operationen führen – und das Sterberisiko erhöhen. Trotzdem wird Diabetes häufig als „Nebendiagnose“ abgetan. Als eines von wenigen Krankenhäusern in Deutschland hat das Jüdische Krankenhaus in Wedding die Kontrolle der Blutzuckerwerte und die Behandlung von Diabetikern in den gesamten Krankenhausablauf integriert.

„In den meisten Häusern wird Diabetes nicht ausreichend berücksichtigt.“ Tippel spricht nicht nur aus eigener Erfahrung. Er ist Vorsitzender des Berliner Landesverbands des Deutschen Diabetiker Bundes. Immer wieder berichten Patienten, dass es in Kliniken an Medikamenten, Messgeräten und Personal fehlt, um auf die Gewohnheiten und Bedürfnisse einzelner Diabetiker einzugehen. Erst letzte Woche, so Tippel, sei eine Frau wegen eines komplizierten Armbruchs stationär aufgenommen worden. Sie konnte sich deshalb nicht wie gewohnt selbst Insulin spritzen und hatte große Schwierigkeiten, eine Schwester zu finden, die ihr half. Ihre Blutzuckerwerte seien während des Krankenhausaufenthalts völlig entgleist.

Dabei ist ein Krankenhausaufenthalt für Diabetiker ohnehin schon eine Belastung. Stress, fehlende Bewegung, anderes Essen, andere Medikamente – all das wirkt sich laut Peggy Meyer, Diabetologin am Jüdischen Krankenhaus, ungünstig auf den Stoffwechsel aus. Auch ein Diabetiker, der im Alltag seinen Blutzuckerwert gut im Griff hat, könne im Krankenhaus plötzlich höhere Werte haben. „Es mangelt Ärzten an Bewusstsein für die Schwere möglicher Komplikationen“, sagt Meyer. Manche Mediziner anderer Fachgebiete behandelten Diabetes, als handele es sich um eine „Nebendiagnose, um die sich später der Hausarzt kümmern kann“. Zu hohe Blutzuckerwerte haben aber nicht nur Folgen in ferner Zukunft, sondern auch ganz konkret im Hier und Jetzt. Betroffene brauchen länger, um gesund zu werden, sind wegen des hohen Blutzuckers anfälliger für Bakterien, bekommen leichter Lungenentzündungen. Wundheilstörungen, Nierenversagen und Komplikationen während der Narkose können dazukommen. Diabetiker sterben in Krankenhäusern öfter, wenn ihre chronische Erkrankung nicht berücksichtigt wird. Richtig eingestellt hätten Diabetiker dagegen kein höheres Risiko als andere Patienten, so Meyer.

Im Jüdischen Krankenhaus, das im Oktober als erstes Haus in Deutschland von der Deutschen Diabetes Gesellschaft als „für Diabetespatienten geeignet“ zertifiziert wurde, leitet Meyer seit 2011 ein spezialisiertes dreiköpfiges Team, das sich stationsübergreifend um Patienten mit erhöhten Blutzuckerwerten kümmert – Chirurgie- und Psychiatriepatienten mit eingeschlossen. Kontinuierlich wurden Pflegepersonal und Ärzte geschult. Ärzte müssen wissen, welches Insulin man bei welchem Diabetes-Typ für eine Operation absetzen kann und wann das nicht möglich ist. Auf jeder Station stehen drei bis vier Pfleger als Ansprechpartner zur Verfügung. Die Blutzuckerwerte werden bei Diabetikern vier bis acht Mal pro Tag kontrolliert. Bei akut erhöhten Werten etwa in der Nacht kann das ausgebildete Personal selbst die Menge an Insulin festlegen und verabreichen.

Weil manche Patienten nicht wissen, dass sie Diabetiker sind, wird bei einer ersten Blutuntersuchung auch auf erhöhten Blutzucker getestet. Von 13 000 Krankenhauspatienten im Jüdischen Krankenhaus im Jahr 2012 hatten rund 27 Prozent Diabetes. „Wir haben fünf bis sechs Neupatienten pro Monat“, sagt Meyer, „uns geht keiner verloren“. Für sie sowie für die vielen schlecht eingestellten Diabetiker gibt es tägliche Schulungsangebote mit einer Diabetesberaterin, die über gesunde Ernährung, Selbstkontrolle, Injektionstechniken, Folgekrankheiten von Diabetes und Fußpflege aufklärt – auch auf Polnisch, Serbokroatisch und Türkisch. Bei einem täglichen Diabetikerfrühstück wird Alltagswissen direkt weitergegeben, etwa wie man Lebensmittel auf ihre Kohlehydrateinheiten schätzt. Auch die Bewegungstherapie wird bei Bedarf den Bedürfnissen von Diabetikern mit fortgeschrittenen Fußproblemen – einer typischen Folgeerscheinung – angepasst.

Patienten und Angehörige können oft nur schwer erkennen, ob eine Klinik auf die Bedürfnisse von Diabetikern vorbereitet ist. „Selbst wenn ein Krankenhaus ein ausgezeichnetes Diabeteszentrum hat“, sagt Klaus-Dieter Jannaschk von der Deutschen Diabetes Gesellschaft, „heißt das nicht automatisch, dass der Urologe oder Kardiologe auch mit dem Diabetologen zusammenarbeitet“. Er empfiehlt, vor einer Einweisung auf der Station nachzufragen, ob ein Experte für Diabetes in die Behandlung eingebunden wird. Patienten sollten eigene Geräte und Medikamente in das Krankenhaus mitbringen und Personal sowie beteiligte Ärzte über Typ der Erkrankung und Behandlung informieren. Reiner Tippel vom Deutschen Diabetiker Bund rät Diabetikern, die gut geschult sind und im Alltag gut zurechtkommen, auch zu Selbstbewusstsein im Krankenhaus, was ihre chronische Erkrankung betrifft. Die „Diabetesversorgung nicht aus der Hand geben“, empfiehlt er. Es sei das Recht jedes Patienten, auch mit seiner chronischen Erkrankung angemessen behandelt und versorgt zu werden. Patienten sollten das einfordern, wenn sie sich vernachlässigt fühlen.

www.deutsche-diabetes-gesellschaft. de. Informationstag „Mit Diabetes gut leben“, 17.11., 10–16 Uhr, ICC.

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