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Anästhesie: Ich bin dann mal kurz weg

Die Geschichte der Anästhesie begann in der Antike. Heute macht sie viele Operationen erst möglich. Die moderne Forschung konzentriert sich vor allem auf die Langzeitfolgen der Betäubung

Das waren noch paradiesische Zustände, als Gott ganz schmerzfrei eine Rippe aus Adams Körper entfernte. „Da ließ der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm seiner Rippen eine und schloss die Stätte mit Fleisch zu“, erzählt uns die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments.

Die erste Narkose (von griechisch „Narkos“, der Schlaf) war zugleich für lange Zeit auch die letzte. Nach der Vertreibung aus dem Paradies mussten die Menschen nicht nur ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts verdienen, sondern auch Kinder unter Schmerzen gebären. Der Körper musste aufgeschnitten werden, um eine Geschwulst zu entfernen. Ein nach einer Verletzung lebensgefährlich infiziertes Bein musste amputiert werden. Diese Prozeduren waren so schmerzhaft, dass sie lange Zeit dem äußersten Notfall vorbehalten blieben. Neben Blutverlust und Infektionen, gegen die es noch keine Transfusionen und keine Antibiotika gab, fehlte vor allem eines: zuverlässige Abhilfe gegen den mörderischen Schmerz. Deshalb wurde, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, meist in Windeseile operiert, während mehrere starke Männer den Kranken mit aller Kraft festhielten.

An Linderungsversuchen fehlte es dabei nicht. Schon in der Antike wurde aus der Alraune gewonnener Wein und pulverisierter Hanfsamen eingesetzt, früh verfiel man auch auf das Mittel der Vereisung mit Schnee und Eisstückchen. Trotzdem blieb zum Beispiel das Zähneziehen eine entsetzliche Qual. Entdeckungen des 19. Jahrhunderts änderten das nach und nach. 1806 wurde zum ersten Mal Morphin aus Opium gewonnen. Schon früher, seit 1775, konnte man Lachgas herstellen, dessen erheiternde Wirkung auf den Jahrmärkten schnell zur Sensation wurde. Die Demonstration des Arztes Horace Wells, der das Lachgas vor Kollegen der Harvard-Universität beim Zahnziehen einsetzte, war zunächst jedoch kein voller Erfolg. „Schmerzen bei Operationen zu vermeiden, ist eine Schimäre, die man heute nicht mehr weiter verfolgen darf“, urteilte der französische Chirurg Velpeau im Jahr 1839.

Auch als sein Kollege William Morton im Massachusetts General Hospital sechs Jahre später zum ersten Mal vor einer größeren Operation Äther einsetzte, blieben die europäischen Mediziner skeptisch, sogar von „Yankee-Bluff“ soll die Rede gewesen sein. Der berühmte Chirurg John Warren hingegen, der dank dieser Narkose einen Hals-Tumor in Ruhe entfernen konnte, war sofort Feuer und Flamme. „Gentlemen, this is no humbug“, soll er gesagt haben.

Ob die wirkungsvollen neuen Formen der Schmerzlinderung auch in der Geburtshilfe Einzug halten sollten, blieb lange umstritten. Skeptisch waren nicht zuletzt Kirchenvertreter, die den Geburtsschmerz als Preis für die Vertreibung aus dem Paradies betrachteten. Als die sittenstrenge englische Königin Viktoria sich bei der Geburt ihres achten Kindes 1853 Chloroform verabreichen ließ, wurde diese „Narcose à la reine“ aber gesellschaftsfähig. Der berühmte deutsche Chirurg Theodor Billroth schrieb wenig später in seinem Handbuch der Chirurgie: „Wir dürfen nie vergessen, dass großartige Operationen, viele Errungenschaften der letzten 20 Jahre, nie geboren worden wären, wenn nicht die Erfindung einer vollkommenen Anästhesie dem Chirurgen ein enormes Material und den Mut zu komplizierten Eingriffen gebracht hätte.“ Billroths dankbare Worte sind umso bemerkenswerter, als der Anästhesie zu diesem Zeitpunkt entscheidende Entwicklungen noch bevorstanden: 1878 wurde erstmals ein Narkosemittel mittels eines Schlauchs in die Luftröhre eingeführt, kurz darauf bekamen die Patienten zusätzlich Sauerstoff, in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts kam das indianische Pfeilgift Curare hinzu, das die Muskeln während des Eingriffs erschlaffen ließ. Eine weitere wichtige Errungenschaft des 20. Jahrhunderts ist die rückenmarksnahe Periduralanästhesie (PDA), bei der nur gezielt und regional Nervenbahnen ausgeschaltet werden, Patient oder Patientin aber bei Bewusstsein bleiben. Heute ist die PDA aus der Geburtshilfe nicht mehr wegzudenken.

Als der Berliner Chirurg August Bier und seine Mitarbeiter ähnliche Methoden der gezielten Schmerzausschaltung erstmals im Selbstversuch testeten, sollen übrigens schlimme blaue Flecken am Unterschenkel die Folge gewesen sein. Die Pioniere hatten die Wirkung der Lokalanästhesie ausprobiert, indem sie mit einem Hämmerchen gegen das Schienbein des Betäubten schlugen. Tatsächlich kamen die Schmerzen erst später, als die Betäubung nachließ.

Als größte Errungenschaft der letzten Jahrzehnte betrachtet es Claudia Spies, Direktorin der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Campus Mitte und Virchow der Charité, dass Narkosen inzwischen ausgesprochen sicher geworden sind: „Nur noch bei einem von 100 000 Eingriffen stirbt ein Patient wirklich an der Narkose.“ Das liege nicht allein an besseren Geräten und Medikamenten, sondern auch am größeren Verständnis der Ärzte dafür, wie beides im individuellen Fall optimal eingesetzt werden kann. Die größere Sicherheit führt auch dazu, dass heute immer mehr alte, mehrfach kranke Menschen operiert werden. Und dass die Anästhesisten nicht mehr nur auf akute Gefahren, sondern auch auf Langzeitfolgen von Operation und Narkose achten. Vor allem ältere Patienten sind im Anschluss an eine Operation öfters verwirrt und desorientiert. Zum Zeitpunkt der Entlassung aus dem Krankenhaus leiden noch 30 Prozent der Operierten unter 60 Jahren und 40 Prozent der Älteren unter kognitiven Störungen. Drei Monate später sind es noch fünf Prozent der Jüngeren und zwölf Prozent der Senioren. Gefährlich ist das vor allem, weil es das Risiko zu erhöhen scheint, später eine Demenzerkrankung zu bekommen. Es wäre also ausgesprochen wichtig, hier gegensteuern zu können.

Die Forschung dazu steht erst am Anfang. Unseren Vorfahren würde aber schon das, was die Anästhesisten heute zu bieten haben, wie eine Rückkehr ins Paradies erscheinen.

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Adelheid Müller-Lissner

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