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Gesundheit: Anfang der Debatte

Die erste Runde war ein Erfolg: Der neue Bundeswettbewerb der Schüler zur Redekunst soll größer werden

Von Jeannette Goddar und

Dorothee Nolte

„Das hätte ich mir als Abiturient nicht zugetraut“, gesteht Ulrich von Alemann. Was den Politikprofessor so beeindruckt: der Mut, die sprachliche Gewandtheit und die Souveränität von acht Schülern, die im Schloss Bellevue miteinander debattieren. Wohlgemerkt: vor dem Bundespräsidenten, vor Fernsehkameras und prominenten Jurymitgliedern wie Sandra Maischberger, Thomas Brussig und Wolf Schneider. „Sollen Eltern das Geschlecht ihrer Kinder aussuchen dürfen?“ „Soll die Ganztagsschule zur Regelschule werden?“ Darüber stritten am Sonntag jeweils vier Schüler der Klassen 8 bis 10 und 11 bis 13 aus ganz Deutschland – und sorgten dafür, dass das Finale des neuen Bundeswettbewerbs „Jugend debattiert“ von Anfang bis Ende spannend war. Kleine Versprecher – „Deswegen bin ich gegen eine freie Wahl des Geschlechts bei Eltern!“ – blieben die Ausnahme.

Die sechs Jungen und zwei Mädchen hatten sich für das Finale in mehreren Vorrunden qualifiziert, die ab Januar in Klassen, Schulverbünden und Bundesländern stattfanden. In Berlin waren sechs Schulen beteiligt (siehe Tagesspiegel vom 15. April). Insgesamt haben rund 16 000 Schüler ab Klasse 8 an dem Wettbewerb teilgenommen, der von Bundespräsident Johannes Rau angeregt wurde. Er sieht den Wettbewerb als einen Beitrag zur Erziehung zur Demokratie, denn: „Demokratie muss verteidigt werden – heute vor allem gegen die Gleichgültigkeit“. Die 16 Besten, darunter die Sieger des Bundesfinales, Jakob Gleim aus Bremen und Dominic Divivier aus Saarbrücken, dürfen im September an einer Akademiewoche teilnehmen. Geldpreise gibt es aus Prinzip nicht.

„Jugend debattiert“ findet in diesem Jahr erstmals bundesweit statt – nach Pilotprojekten in Frankfurt und einem Rhetorik-Wettbewerb in Berlin, den die Gemeinnützige Hertie-Stiftung 2001 gemeinsam mit dem Tagesspiegel veranstaltete. Die Hertie-Stiftung organisiert den Bundeswettbewerb federführend, er wird von der Bosch-, der Nixdorf- und der Stiftung Mercator unterstützt und ist mit einem Etat von 5 Millionen Euro das größte privat finanzierte Vorhaben zur sprachlichen und politischen Bildung in Deutschland.

Zuhören, ausreden lassen

Als erstes wurden 560 Lehrer verschiedener Fächer von Trainern in der Kunst der Debatte geschult. Sie gaben dann ihr Wissen an ihre Schüler weiter, die innerhalb ihrer Klassen und Schulverbünde gegeneinander antraten. Die besten erhielten als Preise Seminare, um sich auf die Landesfinales und das Bundesfinale vorzubereiten. Mehrere Tage lang lernten sie rhetorische Mittel, Argumentationsstrategien, den Einsatz von Körpersprache, aber auch, im jeweils richtigen Moment zu reden und zu schweigen. Die Debatten laufen nach einem festen Muster ab: Jede Diskussion dauert 24 Minuten und beginnt mit einem kurzen Statement der vier Debattierer, von denen zwei eine Pro- und zwei eine Kontra-Position vertreten. Danach wird in freier Aussprache diskutiert; am Ende steht das Schlussplädoyer. All das wird von einer Jury aus Schülern, Lehrern und Eltern nach den Kriterien  Sachkenntnis, Ausdrucksvermögen, Gesprächsfähigkeit und Überzeugungskraft bewertet.

Mit dem, was man auch „Debattenkultur“ nennen könnte, lernen die Schüler etwas, was im Unterricht meist zu kurz kommt – zum Beispiel, auf den Vorredner einzugehen, zuzuhören, ausreden lassen, die Meinung des anderen zwar nicht zu teilen, aber zu akzeptieren. „Statt über praktische Fragen redet man im Unterricht doch meistens über lebensfremde Dinge, und zum richtigen Diskutieren kommt man auch nicht“, sagt Rajana Kersten vom Reinickendorfer Bertha-von-Suttner-Gymnasium, Berliner Landessiegerin in den Klassenstufen 8 bis 10. „Und wenn man dazu kommen würde, wüsste man gar nicht, wie das geht."

Oliver Ritter vom Pankower Carl-von-Ossietzky-Gymnasium, Berliner Landessieger in der Jahrgangsstufe 11 bis 13, bestätigt, dass sich das Niveau der Diskussionen im Laufe des Wettbewerbs enorm erhöht habe: „Am Anfang haben wir alle sechsmal das Gleiche gesagt oder versucht, den anderen mit Lautstärke statt mit Argumenten an die Wand zu reden“, sagt er. „Inzwischen wissen wir uns mit rhetorischen Mitteln zu helfen.“

100 000 Schüler sollen teilnehmen

Anfangs hatten die Veranstalter „ernsthafte Zweifel“, ob die Schüler sich überhaupt für die Debatte begeistern lassen würden. Inzwischen fühlen sie sich durch den Erfolg beflügelt und planen den nächsten, größeren Durchlauf: Statt 169 sollen im kommenden Jahr 250 Schulen mitmachen dürfen, kündigte Roland Kaehlbrandt, Geschäftsführer der Hertie-Stiftung, an. Bis 2005 sollen rund 1500 Lehrer und 100 000 Schüler ab Klasse 8 teilgenommen haben. Michael Endres, Vorstandsvorsitzender der Hertie-Stiftung, sieht den Wettbewerb zukünftig auf einer Ebene mit „Jugend forscht“ und „Jugend musiziert“.

Nicht zuletzt erlebten die jungen Debattanten im Laufe des Wettbewerbs hautnah, mit welchen Mitteln Politiker in Diskussionen schlicht lügen. „Einige Schüler werfen mit Statistiken nur so um sich“, sagt Rajana Kersten, „aber ich bin  ziemlich sicher, dass keine einzige Zahl stimmt.“

Informationen im Internet unter:

www.jugend-debattiert.ghst.de

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