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Gesundheit: Angst vor dem Studentenberg

Unterfinanzierte Unis, Massen mangelhaft gebildeter Abiturienten: Es droht eine neue Bildungskatastrophe

Deutschland steht vor einem neuen Studentenberg. Bisher waren die Kultusminister davon ausgegangen, dass nach dem Jahr 2012 die größten Probleme mit den Studentenmassen bewältigt seien. Jetzt liegen die neuesten Zahlen über Schüler von Gymnasien, Gesamtschulen und Fachoberschulen vor, die genauere Schätzungen erlauben. 450000 Studienanfänger und 2,7 Millionen Studenten soll es 2012 geben. Das sind Zahlen, mit denen in dieser Höhe noch nie in Deutschland gerechnet wurde. Dabei sind weniger die 2,7 Millionen Studenten das Problem. Die wirklichen Probleme liegen bei der enormen Zunahme der Studienanfänger und der Dauer des Zustroms: Er soll bis zum Jahr 2020 anhalten. Katastrophenjahre zwischen 2010 und 2014 sind absehbar, wenn durch die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre doppelte Jahrgänge von Schulabgängern in die Hochschulen strömen.

450000 Studienanfänger müssen bereits im ersten Semester einen Start hinlegen, der ihnen einen Abschluss nach spätestens sieben Semestern statt heute 14 bis 15 Semestern ermöglichen soll. Anders als im klassischen Studium wird von den Bachelor-Studenten jede Vorlesung und jedes Seminar abgeprüft. Hinzu kommt: Viele Studierwillige erreichen nur ein Schulabschlussniveau, das keinen nahtlosen Übergang zum Studium erlaubt (siehe Infokasten). An den Hochschulen muss durch intensive Einführungskurse erst die Voraussetzung geschaffen werden, damit Hochschulstandards eingehalten werden. In einem Massenbetrieb mit Hunderten von Zuhörern in riesigen Vorlesungen – wie heute üblich – ist das nicht zu erreichen. Dann aber droht die große Studienreform im Zeichen von Bachelor und Master zu scheitern.

Jetzt hat Deutschland die letzte Chance, in die Masse von Studierwilligen wirklich zu investieren, damit in späteren Notzeiten nach 2020 genügend qualifizierte Berufstätige vorhanden sind. Denn nach dem Jahr 2020 wird sich der scharfe Geburteneinbruch nach der Wende auch bei den Studenten bemerkbar machen.

Die Kultusministerkonferenz veröffentlichte zu den neuesten Hochrechnungen eine hilflose Erklärung: Die Kapazitäten an den Hochschulen müssten besser an die neuen Herausforderungen angepasst werden, die Studienzeiten seien durch zügige Umsetzung der Bachelor-Master-Reform zu verkürzen, die Studienberatung zu verbessern, Anreize für ein kürzeres Studium zu bieten und für jobbende Studenten müssten mehr Teilzeitstudiengänge geschaffen werden. Dieses Programm erinnert fatal an die Zeiten, als Deutschland schon einmal vor einem Studentenberg stand und die verantwortlichen Politiker Zuflucht zu einer „Untertunnelung des Studentenberges“ nahmen.

1977 beschlossen die Ministerpräsidenten der Länder für die Millionenjahrgänge, die zwischen 1961 und 1967 allein in der alten Bundesrepublik geboren wurden, die Universitäten und Fachhochschulen zu öffnen, ohne auch nur annähernd die Finanzmittel für mehr Lehrpersonal bereitzustellen. Die Begründung für diese Fehlentscheidung lautete: Da sich durch Einwirkung der Pille in den 70er-Jahren die Geburtenzahlen halbiert hätten, wolle man für die schwächeren Studentenjahrgänge, die für die 90er-Jahre erwartet wurden, nicht unnötig in Beton und verbeamtetes Personal investieren. Seit 1977 klafft eine Finanzierungslücke von acht Milliarden Mark oder heute vier Milliarden Euro. Die Prognose von schwächeren Studentenjahrgängen war außerdem falsch, weil in den 90er-Jahren immer mehr studieren wollten.

Die Folgen kurzsichtiger politischer Entscheidungen waren überlange Studienzeiten von bis zu 15 Semestern, Abbrecher- und Schwundquoten im Durchschnitt aller Studenten von 30 Prozent und eine Abwanderung der besten Nachwuchswissenschaftler in die USA.

Der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Peter Gaehtgens, reagiert denn auch mit Empörung auf die Verlautbarungsrhetorik der Kultusminister: „Die Erklärung ist völlig unzureichend. Denn die Folgen der Untertunnelung sind immer noch nicht bewältigt. In der Realität werden heute eher Professorenstellen gestrichen als neue geschaffen. Wenn die Studentenzahlen steigen, werden alle Universitäten zum flächendeckenden Numerus clausus gezwungen sein, wenn nicht gegengesteuert wird.“

Wer soll gegensteuern? Die Kultusminister verlangen für die Bildung in Schulen und Universitäten die alleinige Zuständigkeit und wollen den Bund draußen halten. HRK-Präsident Gaehtgens hält das für falsch: Wenn die Länder die volle Zuständigkeit für die Bildung haben wollten, dann trügen sie auch die alleinige Verantwortung und müssten die Programme entsprechend finanzieren. Das könnten sie jedoch nicht. Denn der Mehrbedarf zur Bewältigung des kommenden Studentenandrangs werde jährlich 1,5 bis zwei Milliarden Euro betragen.

Selbst eine finanzielle Entlastung der Universitäten durch die Erhebung von Studiengebühren ist keinesfalls gesichert. Die SPD-regierten Länder möchten nur Studienkonten einführen, mit der Folge, dass erst die Langzeitstudenten nach dem 14. Semester zahlen müssen. Die CDU-regierten Länder denken bereits an Studiengebühren vom ersten Semester an, und zwar in Höhe von 500 Euro. Für deren Bezahlung bietet zum Beispiel die Landesbank von Baden-Württemberg den Studenten Darlehen an. Das hat Folgen: Die Studiengebühren werden den Hochschulen nicht ungeschmälert zugute kommen: Auf der einen Seite wird in dem baden-württembergischen Gesetzentwurf garantiert, dass die Einnahmen dazu dienen sollen, die Studienbedingungen zu verbessern und die Qualität der Lehre zu steigern. Es wird genau aufgezählt, was zur Verbesserung der Lehre geschehen soll: die Einrichtung zusätzlicher Tutorien und wissenschaftlicher Hilfskräfte zur Betreuung der Studierenden. Auf der anderen Seite jedoch müssen alle Hochschulen und Berufsakademien einen Studienfonds auflegen. Der Studienfonds wird dann von den Banken in Anspruch genommen, wenn ein verschuldeter Hochschulabsolvent das Gebührendarlehen nicht zurückzahlen kann.

HRK-Präsident Peter Gaehtgens warnt davor, die Studiengebühren als Ausweg aus dem Finanzierungsdilemma auszuhebeln. Es wäre nicht hinnehmbar, wenn die Hochschulen noch nicht einmal über die volle Summe von 500 Euro pro Student im Semester verfügen könnten, sondern wegen des Studienfonds nur über 300 Euro. Die von der OECD empfohlene Steigerung der Studierenden auf 40 bis 50 Prozent eines Jahrgangs sei angesichts des neuen Studentenbergs „völlig unrealistisch“ und müsse von der Politik aufgegeben werden. Die Hochschulen sollten insbesondere „nicht mehr alle Pisa-geschädigten Schulabgänger aufnehmen“.

Uwe Schlicht

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