zum Hauptinhalt

Gesundheit: Attacke am Arbeitsplatz

Psychologen untersuchen, wie Gewaltdelikte im Berufsleben verhindert werden können

Irgendwann werde er jemanden fertig machen, bevor er selbst fertig gemacht werde, drohte ein Klient bei der Bundesagentur für Arbeit (BA). Der Jobsuchende fühlte sich durch die Schulungsangebote der BA gedemütigt.

Mit einem Gespräch unter vier Augen sah der BA-Mitarbeiter das Problem aus der Welt geschafft. Nicht so sein Kunde. Er lauerte dem obersten Vorgesetzten des BA-Mitarbeiters, dem Direktor des Arbeitsamts, eineinhalb Jahre später an einem Wintermorgen auf. Als dieser das Haus verließ, wollte ihn der noch immer arbeitslose Mann zur Rede stellen, wurde aber des Grundstücks verwiesen. Da versetzte er dem Direktor tödliche Stiche mit einem Dreikantschaber.

Die Rache an dem Arbeitsamtleiter ist eine von 20 schweren Gewalttaten mit Bezug zum Arbeitsplatz, die die Psychologen Jens Hoffmann und Claudia Dölitzsch von der Technischen Universität Darmstadt darauf hin untersucht haben, ob sich solche Taten ankündigen und ob sich die Gefahr, die von einem potenziellen Täter ausgeht, abschätzen lässt.

„Es gibt in Deutschland kaum systematische Untersuchungen zu schwerer Gewalt am Arbeitsplatz“, sagte Hoffmann dem Tagesspiegel. „Unsere Studie ist mit 20 Fällen natürlich nicht repräsentativ. Aber die genaue Analyse von Ermittlungsakten und Gerichtsurteilen hat ergeben, dass sich viele Gewalttaten mit Bezug zum Arbeitsplatz – in unserer Studie vermutlich mehr als die Hälfte – hätten verhindern lassen, wenn die späteren Opfer und das Umfeld der Täter gewusst hätten, an wen man sich bei Drohungen oder Verhalten wenden soll, das auf die Vorbereitung einer Attacke deuten könnte.“

In anderen Ländern wie den USA, Großbritannien und Finnland haben staatliche Institutionen zusammen mit privaten Sicherheitsberatern Netzwerke gebildet und stellen Ansprechpartner für jeden zur Verfügung, der sich bedroht fühlt. „In großen Unternehmen gibt es auch bei uns Sicherheitsmanagement“, sagt Hoffmann. „Aber es fehlen Beratungsangebote, die für jedermann leicht erreichbar sind“, bemängelt der Psychologe. Denn überall dort, wo Menschen über lebenswichtige Dinge anderer entscheiden wie den Bezug von Sozialleistungen, den Entzug des Führerscheins, den Umgang mit Kindern nach einer Trennung, den Verlust des Arbeitsplatzes oder eine Herabstufung in der betrieblichen Hierarchie, besteht ein erhöhtes Risiko, Opfer von körperlicher Gewalt zu werden und auch seelische Schäden davon zu tragen.

Wie häufig es zu schweren Übergriffen im Zusammenhang mit dem Arbeitsplatz kommt, wird nicht registriert, selbst bei tödlicher Gewalt nicht. In den USA mit seinen 300 Millionen Einwohnern werden pro Woche etwa 20 Menschen im Zusammenhang mit Konflikten am Arbeitsplatz getötet und 18 000 körperlich und meist auch seelisch verletzt, heißt es auf der Website des National Institute for Occupational Safety and Health (NIOSH, Stichwort: violence in the workplace). Zwei von 10 000 Mitarbeitern privater Firmen würden jährlich Opfer schwerer Attacken. In öffentlichen Bereichen wie dem Gesundheitswesen sei die Rate sogar viermal so hoch.

In den USA und in Finnland, wo der ehemalige Polizist Totti Karpela die erste europäische „Einheit für Bedrohungsmanagement“ aufgebaut hat, hätte der BA-Mitarbeiter vermutlich Experten informiert. „Null Toleranz“ lautet in diesen Ländern die Devise. Dort versuchen Psychologen nach verbalen Attacken einzuschätzen, ob jemand gewalttätig werden wird.

Hoffmann und Dölitzsch glauben, dass das Motiv mit der Planungsintensität und der Schwere der Tat zusammenhängt. Manche Täter wie der Mörder des Arbeitsamtsdirektors möchten auf einen Konflikt aufmerksam machen oder das Problem mit der Tat lösen. Sie nehmen sowohl Personen ins Visier, mit denen sie Konflikte hatten, als auch solche, die sie als Stellvertreter betrachten.

So fasste ein Mann, der mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war, den Entschluss, irgendeinen Richter zu töten: Richter dürften nicht an „Lug und Trug“ mitwirken, begründete er seine Tat und erstach eine Familienrichterin. Sie war die Erste, die ihm in einem Amtsgericht die Tür geöffnet hatte.

Oft aber entschließe sich der Typ von Angreifer, der eigentlich ein Problem lösen wolle, erst in dem Moment zur Tat, in dem er kein Gehör finde, berichten Hoffmann und Dölitzsch. Eine Chance, das Debakel zu verhindern. Vielleicht wäre der Arbeitsamtsdirektor verschont geblieben, hätte er sich gesprächsbereit gezeigt. Dagegen sind Täter, die sich rächen wollen, oft fest entschlossen, eine schwere Gewalttat zu begehen, und planen sie akribisch.

Um den Ernst der Lage einzuschätzen, leuchten die Sicherheitsberater das persönliche Umfeld des Angreifers diskret aus, „ohne jemanden vorzuverurteilen“, betont Hoffmann, der das Unternehmen „Team Psychologie und Sicherheit“ gegründet hat. Ziel ist, die Tat zu verhindern. Das gelinge oft, indem man mit der Person ins Gespräch komme.

Zu 80 bis 90 Prozent sind es Männer, die andere am Arbeitsplatz attackieren. Um einzuschätzen, ob Drohungen ernst zu nehmen sind, machen sich die Psychologen auf Spurensuche in die Vergangenheit. Das Risiko ist erhöht, wenn der Angreifer Probleme nicht bewältigt habe, wenn es Schnitte gebe wie Trennungen von den Eltern oder von Lebenspartnern, Abbrüche in der Ausbildung oder von Arbeitsverhältnissen. Ein biografischer Scherbenhaufen begünstige die Neigung, Schuld bei anderen zu suchen. Dann bedürfe es oft nur noch eines Auslösers.

„Gibt es Hinweise auf eine konkrete Planung, ist es zu spät für Ermittlungen“, sagt Hoffmann. „Dann müssen die Personen geschützt werden, die der potenzielle Täter angreifen will.“

Nicola Siegm, -Schultze

Zur Startseite