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Gesundheit: Aufstand der Jugend

Bei der neuen Friedensbewegung sind vor allem die Schüler präsent – ein Signal, das sich nicht nur gegen den Irak-Krieg richtet

Drei Merkmale der derzeitigen Friedensbewegung in Deutschland sind augenfällig: ihre überraschende Größenordnung, ihre enge Verbindung mit den Globalisierungskritikern, die bedeutende Rolle von Schülern.

Obgleich es seit Bestehen der Bundesrepublik mehrfach zu wellenförmigen Mobilisierungen der Friedensbewegung gekommen ist, war es der drohende Irakkrieg, der am 15. Februar die bislang größte Friedensdemonstration in der deutschen Geschichte auslöste. Vom weiteren Verlauf dieses Krieges hängt es ab, ob die Proteste in diesen Wochen die bis dato mächtigste Welle von Friedenskundgebungen in den frühen achtziger Jahren übertreffen werden. Neu ist an der derzeitigen Situation, dass sich die Friedensbewegung mit der Regierung im Grundsatz einig weiß. Dies war anders bei den Protesten gegen die Etablierung der Bundeswehr (um 1955), gegen die Pläne zur atomaren Bewaffnung der Bundeswehr (1957/58), gegen den Vietnamkrieg (von etwa 1966 bis 1973), gegen den Nato-Doppelbeschluss (von 1979 bis etwa 1985) und gegen den Golfkrieg von 1991. Neu ist auch, dass die ganz überwiegende Mehrheit der Bevölkerung einen von demokratischen Regierungen geführten Krieg ablehnt. Die Friedensbewegung wie auch die Bundesregierung können somit guten Gewissens beanspruchen, Volkes Stimme zu verkörpern.

Dass die Friedensdemonstrationen selbst dann machtvoll ausfallen, wenn sie sich nicht gegen die eigene Regierung richten, verweist auf gewichtige Mobilisierungsgründe jenseits der angeblichen Protestlust eines „Njet-Set“ (Niklas Luhmann). Ein erster Grund für den starken Protest ist die Überzeugung, die USA hätten einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaum gebrochen. Dessen Beginn erfolgte zudem just zu einem Zeitpunkt, als von der Völkergemeinschaft entsandte Kontrolleure dabei waren, den Irak nach verbotenen Waffen zu durchforsten. Ein zweiter Grund ist der keineswegs neue, aber sich nun zur Gewissheit verdichtende Eindruck, die US-Regierung betreibe kraft ihrer historisch einzigartigen militärischen und ökonomischen Überlegenheit eine hegemoniale Politik, die nur noch die eigenen Interessen kennt. Dem Rest der Welt, auch wenn er eine überwältigende Mehrheit verkörpern mag, wird damit eine Statistenrolle, wenn nicht gar die Rolle der Unterstützer des „Bösen“ zugewiesen.

Ein dritter Grund des Protests in Deutschland bezieht sich auf die eigene Regierung. Ihr wurde im diplomatischen Gerangel vor dem Krieg wenig Standfestigkeit zugetraut. Hieraus ergaben sich zwei unterschiedliche Motive, die zum gleichen Ergebnis führten: Die einen wollten sich im Protest mit der Regierung solidarisch erklären; die anderen, eher misstrauisch, suchten diese darauf zu verpflichten, auch einer indirekten Unterstützung des Krieges zu entsagen.

Beflügelnd für die Demonstrierenden wirkte schließlich die Gleichzeitigkeit der weltweiten Demonstrationen am 15. Februar. Die Teilnehmer konnten sich so als Teil einer grenzüberschreitenden moralischen Gemeinschaft darstellen und zugleich hoffen, das zu diesem Zeitpunkt noch offene diplomatische Spiel zu beeinflussen. Damit verweigerten sie sich der rationalistischen Logik, derzufolge es für jeden einzelnen sinnlos sein müsste, sich an einer Massendemonstration zu beteiligen, da seine Anwesenheit ohnehin nicht ins Gewicht falle. Zwar steht das Nein zum Krieg gegen den Irak im Mittelpunkt der gegenwärtigen Friedensbewegung, doch scheint sich darin zugleich ein breiteres Unbehagen an den globalen politischen Verhältnissen zu bündeln.

Erkennbar ist dies daran, dass viele Demonstrationsteilnehmer bereits in früheren Protesten jenseits des Friedensthemas engagiert waren und anderen sozialen Bewegungen als Aktivisten angehören. Erstaunlich hoch ist der Anteil derer, die mit der Bewegung gegen neo-liberale Globalisierung sympathisieren (75 Prozent) oder sich „ziemlich stark“ oder sogar „sehr stark“ mit ihr identifizieren (49 Prozent). Wie unsere Befragung der Demonstranten des 15. Februar zeigt, beteiligen sich diese in höherem Maße an politischen Wahlen als der Durchschnitt; zugleich aber weisen sie ein extrem geringes Vertrauen in die Parteien auf, während sie sozialen Bewegungen in hohem Maße vertrauen.

In der gegenwärtigen Friedensbewegung sind alle Altersgruppen vertreten, doch ist die starke Präsenz von Schülern geradezu ihr Markenzeichen geworden. Gleiches gilt auch für die Proteste gegen den Golfkrieg im Jahr 1991. Dagegen waren in früheren Friedensprotesten Studierende und Intellektuelle die treibenden Kräfte. Warum gerade die Schüler so aktiv sind, lässt sich vorerst nur spekulativ beantworten. Gerade junge Menschen reagieren auf die Kluft zwischen moralischen Werten und realen Handlungen besonders empfindlich. Diese Kluft ist im Falle einer hochgradig moralisierenden und zugleich strikt machtpolitisch handelnden US-Führung augenfällig. Gymnasiasten, so meine Vermutung, zeigen sich angesichts solcher Widersprüche weitaus weniger „abgebrüht“ als die älteren Generationen und selbst die Studierenden. Letztere spüren mehr denn je den Druck, der sich aus dem Arbeitsmarkt ergibt. Viele von ihnen scheuen deshalb die Kosten eines Engagements, das für die Karriere „nichts bringt“.

Ein weiterer Faktor ist die ablehnende Haltung vieler Jugendlicher gegenüber den etablierten Formen politischer Interessenvertretung mit ihren Hierarchien, ihrem „Gelaber“, ihrer Vereinsmeierei. Die Form der sozialen Bewegung, und mit ihr die Chance, sich eigenständig zu artikulieren und zu organisieren, wird damit selbst zur einer politischen Botschaft. Zum Dritten ist die derzeitige Schülerschaft von einer Eltern- und Lehrergeneration sozialisiert, welche ihrerseits von den neuen sozialen Bewegungen geprägt worden ist. Die Werte dieser Bewegungen sind mit denen der heutigen Friedensbewegung weitgehend deckungsgleich, während zwischen dem radikalen Gestus der 68er-Generation und ihren pragmatischen Sprösslingen eine größere Diskrepanz bestand.

Nicht zuletzt profitiert die heutige Friedensbewegung von der Welle globalisierungskritischer Bewegungen, welche gerade junge Leute in ihren Bann zu schlagen vermag. Auch wenn die Konturen der erhofften „anderen Welt“ unbestimmt bleiben, so herrscht doch Einigkeit darüber, dass damit nicht das „Reich des Guten“ gemeint ist, das die derzeitige US-Regierung im Sinn hat. Das gibt Anlass zur Hoffnung – selbst in den düsteren Zeiten des Krieges.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin und leitet die Arbeitsgruppe Politische Öffentlichkeit und Mobilisierung am Wissenschaftszentrum Berlin

Dieter Rucht

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