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Gesundheit: Aus dem Bauch heraus

Der Mensch hat viel zu verdauen. Wie gelingt ihm das? Eine Reise durch Mund, Magen und Darm

Neben ihrer geliebten Tageszeitung gehört das Müsli für Irene M. zum Morgenritual. Die 39-Jährige schwört darauf: Ihr Müsli ist eine ausgewogene Komposition aus Bestandteilen, die ihr Körper braucht – Eiweiß und Fett in Milch, Joghurt und Nüssen, Kohlenhydrate in Körnern, Haferflocken und Obst, dazu Vitamine und Spurenelemente.

Am Anfang ist der Biss. Bereits die Tatsache, dass die gebannte Zeitungsleserin sich nicht verschluckt, ist eine technische Meisterleistung, die ohne ihr bewusstes Zutun erbracht wird. Der Irrweg in die Luftröhre wird versperrt, sobald die erste Ladung Apfel, Nuss und Haferkern sich der Speiseröhre nähert. Wir sind noch weit oben im fünf bis sieben Meter langen elastischen Schlauch, der vom Mund bis zu jener Körperöffnung reicht, die es eigentlich nicht verdient hat, ewig als Schimpfwort herhalten zu müssen.

Etwas später, wenn Irene M. in der U-Bahn sitzt, besorgen die Quer- und Längsmuskeln der Magenwand das weitere Mischen und Zerkleinern ihres Frühstücks. Der Magen dient außerdem als Speicher. Das Frühstück muss schließlich vorhalten, bis die Kantine mittags öffnet. Der Magen-Darm-Trakt würde mit der Aufspaltung des gesamten Speisebreis gar nicht auf einmal fertig. Der Dünndarm wird deshalb nur in kleinen Portionen beliefert. „Meist wird der Magen als wichtigstes Organ der Verdauung angesehen – was aber nicht stimmt“, sagt der Magen-Darm-Spezialist Walter Londong, Vorsitzender der Berlin-Brandenburgischen Gesellschaft für Gastroenterologie. „Die eigentliche Verdauung geschieht im Dünndarm durch die Säfte der Bauchspeicheldrüse.“ Die chemischen Reaktionen, die nötig sind, um die Nahrung in einfache Bausteine zu zerlegen, die in die Blutbahn gelangen und uns Energie liefern, brauchen den Beistand von sehr viel Wasser – und von Verdauungsenzymen, die von den Drüsen der Magen-Darm-Schleimhaut gebildet werden. Um Fett zu verdauen, benötigen wir dazu noch Gallensalze. Wasserlösliche Vitamine gelangen vom Darm leicht ins Blut. Es gibt aber auch Vitamine, die sich nur in Fett lösen. „Deshalb kann eine extrem fettarme Diät zu Vitaminmangel führen – auch wenn sie viel vitaminreiches Obst und Gemüse enthält“, warnt Londong.

Was von der Mahlzeit nach dieser Auswertung übrig bleibt, wandert vom Dünndarm weiter in den Dickdarm. Zu diesen Ballaststoffen gehört zum Beispiel Zellulose aus Pflanzenfasern. Manche von ihnen können von Bakterien im Dickdarm gespalten werden, andere wandern nur durch uns hindurch und werden unverändert ausgeschieden. Der Dickdarm ist überhaupt ein Eldorado für Bakterien, die sich normalerweise gegenseitig gut in Schach halten. Im Verdauungsrohr sind sie außerdem so gut gefangen, dass sie im übrigen Körper kein Unheil anrichten können. Antibiotika können dies Gleichgewicht empfindlich stören, schon deshalb sollten sie nur gezielt eingesetzt werden.

Aber auch ein Urlaub in einem fernen Land, in dem andere Mikroorganismen zu Hause sind, kann diese Folge haben. Gegen Durchfall, den Bakterien oder Viren verursachen und der oft ein unliebsames Reisemitbringsel ist, hilft die Hausregel „Wasch es, koch es oder vergiss es!“ Wenn es doch dazu gekommen ist, reicht es meist zunächst, viel zu trinken. Die „WHO-Lösung“ (Weltgesundheitsbehörde), die in vereinfachter Fassung aus einem Teelöffel Salz und zwei Esslöffeln Traubenzucker pro einem Liter Wasser besteht, bringt die Darmschleimhaut dazu, Flüssigkeit aufzunehmen. Diesem Ziel dient auch die einfachere Cola-und- Salzstangen-Diät. Der Körper wird so vor dem Austrocknen geschützt. Bei länger andauerndem Durchfall, Fieber oder starken Schmerzen und wenn man wegen starken Erbrechens den Flüssigkeitsverlust nicht ausgleichen kann, muss man aber zum Arzt gehen.

Im Alltag leiden viele allerdings eher unter dem Gefühl der Verstopfung. Darmspezialisten beruhigen: „Normal“ kann fast alles sein, von dreimal täglich bis dreimal wöchentlich. Wenn zu harter Stuhlgang als quälend empfunden wird, hilft oft eine Ernährungsumstellung auf ballaststoffreiche Kost. Wenn die Beschwerden trotzdem anhalten, sollte man mit dem Arzt darüber reden.

Die Ballaststoffe aus Vollkorn, Haferflocken, geschrotetem Leinsamen und Äpfeln, die Irene M. im Morgenmüsli hat, sind überhaupt weit mehr als Abfall: Sie sorgen nicht nur für länger anhaltende Sättigung und dafür, dass es mit dem Stuhlgang keine Probleme gibt. Aus großen bevölkerungsbezogenen Studien kommen außerdem immer mehr Hinweise, dass eine ballaststoffreiche Ernährung das Risiko verringert, Darmkrebs zu bekommen. Und mit 60000 Neuerkrankungen pro Jahr ist das in Deutschland die häufigste Krebserkrankung. Wie der Krebs durch Ernährung beeinflusst werden kann, weiß man allerdings noch nicht so genau.

Umso wichtiger ist Früherkennung. Ein Test auf verborgenes Blut im Stuhl ist unaufwändig. Bei einer Darmspiegelung mit einem flexiblen Rohr, die die Krankenkassen ab dem 55. Lebensjahr bezahlen, können Vorstufen von Krebs gleich entfernt werden. Weil sie nur langsam wachsen, kann man nach so einer Untersuchung das Thema zehn Jahre lang vergessen. Gut so. Denn den Darm und seine Tätigkeit nicht weiter beachten zu müssen, scheint unserer Gesundheit zuträglich zu sein: „Dringt der Verdauungstrakt in die bewusste Wahrnehmung vor – beispielsweise durch Sodbrennen, Krämpfe, Durchfall oder Verstopfung – sind wir alles andere als begeistert. Wir wollen, dass er wirksam und außerhalb unseres Bewusstseins seine Arbeit tut“, sagt der amerikanische Neurobiologe Michael Gershon. Dass wir unser Müsli und andere Speisen mit Bedacht auswählen und bewusst genießen, ist eine ganz andere Geschichte.

Adelheid Müller-Lissner

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